Das Dilemma einer wachsenden Bevölkerung, die
mit einer ebenso wachsenden Automatisierung/Digitalisierung von
Arbeitsprozessen einhergeht. Was geschieht mit jenen, die „überflüssig“
geworden sind?
Titel: Peking falten
Autorin: Hao Jingfang
Originaltitel: Folding Beijing bzw. 北京折叠
Verlag: Elsinor
ISBN: 978-3942788380
Euro: 14,00
Veröffentlichungsdatum: März 2022
Seiten: 84
Serie: nein
Come in: Kauf
Inhalt
Peking in der Zukunft. Die chinesische
Hauptstadt ist in drei Sektoren unterteilt worden, die gefaltet und
ruhiggestellt werden können. Sektor 1 erhält vierundzwanzig Stunden, während
Sektor 3 sich mit nur acht begnügen muss. Lao Dao, Mitarbeiter in der
Müllaufbearbeitung (Sektor 3), muss Schulgeld zusammenbekommen und lässt sich
auf ein gefährliches Wagnis ein. Er soll einen Liebesbrief vom zweiten in den
ersten Sektor bringen. Dazu muss er sich nicht nur dort durchmogeln, wo die
Stadt gefaltet wird, er muss sich ebenfalls unerkannt durch die Sektoren bewegen.
Was er sieht, wird ihm die Augen öffnen.
Meinung
Die Autorin erdenkt einen Protagonisten, den das direkt betrifft. Lao Dao, Ende vierzig, arbeitet in der Müllaufbearbeitung, hat danach gerade Zeit, sich eine Mahlzeit am Imbiss zu besorgen und/oder eine Kleinigkeit zu erledigen und muss dann schon nach Hause, um sich ruhigstellen und einschlafen zu lassen. Das System wird offenkundig nicht hinterfragt – Kontakt zwischen den Sektoren ist untersagt –, nur insofern, dass das Geld wie immer knapp ist. Der einfache Mann lässt sich auf einen gefährlichen Deal ein, der ihn sehr wohl das Leben kosten könnte.
Es handelt sich um eine Novelette, die keine hundert Seiten lang ist. Zu erwarten, dass das Geschehen in die Tiefe geht oder die Gegebenheiten genauestens beschrieben werden, ist fehl am Platz. Hao Jingfang schildert die Ereignisse stringent und durchaus bildhaft, dem Leser bleibt jedoch viel Raum, für eigenes Denken. Dennoch wird Lao Daos Welt lebendig, er selbst ein Sympathieträger; ein einfacher Mann, der in einer übergroßen Welt klarkommen muss, sie aber nicht groß hinterfragt und alles als unveränderlich und gegeben hinnimmt. Es ist eine persönliche Notlage, gepaart mit einer Gelegenheit, die ihn über seine Grenzen (innere wie äußere) gehen lässt. Obwohl er „das andere“ zu Gesicht bekommt, wird das an seinem Leben vermutlich nicht viel ändern. Auch die Tatsache, dass Sektor 1 sich nie mit weniger zufrieden geben wird, als das, was es schon hat – gezeigt am Bild der Adressatin – und alles andere in den eigenen Reihen nicht duldet, hinterlässt zunächst keine tiefen Spuren bei ihm. Und trotzdem …
Die Autorin hat keine völlig neue Idee, keine spektakuläre neue Welt erdacht und gezeigt, sondern sich fast artig an Klassiker gehalten. Dass sie jedoch in einem Land schreibt, in dem es reale Zensur gibt, an der sie quasi vorbeischreiben muss, macht die Sache brisant. An der Stelle sei auf „Stanislaw Lem. Leben in der Zukunft.“ verwiesen, in dem sehr deutlich gezeigt wird, wie es diesem in einer ähnlichen Lage einst in Polen erging. Manche erinnern sich vermutlich auch noch an einen Staat namens DDR. Es klappt also überall auf der Welt und vermutlich auch jederzeit …
Persönlich hat mich fasziniert, dass offenbar alle Staaten vor den gleichen Problemen, siehe Eingangsabsatz, stehen und sich gegenseitig in und mit ihren Reaktionen beäugen. Dabei schaut China auch ganz genau auf Europa, das Hao Jingfang ausdrücklich erwähnt – und zwar in Zusammenhang mit den (historisch)christlichen Werten wie Nächstenliebe. Wir glauben ja gern, dass die ganze Welt so lebt oder leben sollte, aber die meisten Länder/Kontinente sehen auf eine eigene Historie, eigene Religionen und damit eigene Glaubensrichtungen und Werte zurück. Was uns unmenschlich erscheint und umgekehrt, muss nicht zwangsläufig korrelieren. Wie nun alle mit dem gleichen Problem umgehen, kann Anreiz schaffen oder Gegenteil. Die meisten Arbeitsplätze sind schon heute leicht durch Maschinen oder einen Algorithmus zu ersetzen. Aber allzu viele Erwerbslose/Obdachlose sprengen jedes (Gesellschafts-)System, besonders in Europa, wo die Sozialsysteme ohnehin schon knapp vor dem Kollaps stehen. Also scheint eine Lösung zu sein, einfache Jobs zu erhalten und die Leute für wenig Geld weiterarbeiten zu lassen. Was wiederum nur funktioniert, wenn nicht ständig an Mindestlöhnen und ähnlichem herumgebastelt wird. Am eigentlichen Problem ändern die übrigens sowieso nichts.
Die kurze Erzählung jedenfalls ist lesenswert und ich möchte sie gern weiterempfehlen. Sie ist auf den Punkt gebracht und regt zum Nachdenken an.
Hao Jingfang wurde im Orwell-Jahr 1984 geboren. An der Tsinghua-Universität in Peking legte sie 2006 ihr Examen in Physik ab; 2012 folgte eine Promotion in Wirtschaftswissenschaften. Seit 2006 publiziert sie regelmäßig in chinesischen Zeitschriften. Mit ihrer beklemmenden Dystopie eines künftigen urbanen Lebens, Peking falten, gewann sie 2016 den international renommierten Hugo Award für Science-Fiction in der Kategorie „Best Novelette“.
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Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!
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