Dienstag, 18. Mai 2021

Die Canterbury-Erzählungen - Geoffrey Chaucer

 


Titel: Die Canterbury-Erzählungen

Autor: Geoffrey Chaucer

Originaltitel: The Canterbury Tales

Verlag: Anaconda

ISBN: 978-3730609699

Euro: 9,95

Veröffentlichungsdatum: März 2021

Seiten: 800

Serie: nein

Come in: vom Verlag

 


 

Meinung

Wer gern zu Fantasy-Romanen greift, kommt mit ein wenig Hintergrundrecherche nicht umhin, eine Empfehlung für Chaucers „Canterbury-Erzählungen“ zu erhalten. Das Sittenbild des vierzehnten Jahrhunderts kommt nicht nur bildreich und mannigfaltig daher, sondern auch sehr unterhaltsam. Chaucer gilt als großer Dichter der englischen Literatur, was nicht zuletzt daran liegt, dass er als Erster in der englischen Sprache schrieb. Wo zuvor eher Französisch oder Latein in literarischen Texten glänzte, schuf Chaucer ein Werk in seiner eigenen (Volks-)Sprache. Die große Bandbreite an treffend geschilderten Charakteren und Figuren trug ihr Übrigens hinzu.
Das Werk beginnt mit einem Vorwort. Hier treffen dreißig Pilgerreisende auf dem Weg nach Canterbury zum Grab des heiligen Thomas Becket in einer Herberge zusammen und beschließen, sich die Reise angenehmer zu gestalten, indem sie sich Geschichten erzählen. Der Vorschlag kommt seitens des Wirts, der sicher auch materielle Gründe dafür hatte. Nun werden alle Reisenden vorgestellt. Es sind einige zusammengekommen: Ritter, Damen, Mönche, Rechtsgelehrte, Bauern, eine Äbtissin, Handwerker – eine bunte Mischung der damaligen Gesellschaft.


Chaucer vermag es nun, allen eine eigene Stimme zu geben. Geschichte und Schilderung derselben entsprechen genau dem jeweiligen Erzähler, ihr Stand, ihr Bildungsgrad, ihre Erfahrungen im Leben werden genauestens aufgegriffen. Darum wird das Werk oft als „Sittenbild der mittelalterlichen Ständegesellschaft“ bezeichnet. Andere halten es ebenfalls für eine Satireschrift.
Gleich die erste Geschichte belegt die Vorliebe von Fantasy-Autoren für das gesamte Werk. Der Ritter erzählt die Geschichte zweier junger Männer, die aus dem Fenster eines hohen Turms, in dem sie als Kriegsgefangene eingeschlossen sind, die Schwester der Königin erblicken und sich beide in sie verlieben. Sie geraten darüber in großen Streit. Nur ein Schiedsspruch kann sie vom Kampf abhalten, der besagt, sie sollten in einem Jahr zurückkehren und an einem Turnier teilnehmen, der Gewinner erhalte die Hand der Dame. Sie erleben in dem Jahr noch einiges, kehren zurück, einer gewinnt, stürzt dann jedoch und stirbt. Der andere erhält die Hand der Dame zum Ehebund.
Aber auch Tierfabeln sind anzutreffen. In etwa in der Erzählung des Hahns, der wegen der Hänselei einer Henne im Hof herumgeht, obwohl er weiß, dass sich dort ein Fuchs herumtreibt. Dieser schnappt sich den Hahn daraufhin und will ihn verschleppen. Der Hahn kann ihn auf der wilden Verfolgungsjagd (Mensch und Tier rennen hinterher) austricksen und entkommen.
Die Mischung ist sehr bunt gelungen. Mal gibt es einen Zeigefinger, mal geht es artig zu, mal auch recht derb und sogar zotig. Natürlich verbleibt das Werk in seiner Zeit verhaftet, aber es geht so wild durcheinander, dass auch jene Leser hineinsehen sollten, die sich vor den Ausrufezeichen unserer eigenen Zeit(geist) fürchten. In etwa kann ein einziges Frauenbild nicht herausdefiniert werden, auch wenn brave und sittliche Damen als eine Art Ideal dargestellt werden. Keine Sorge, es gibt genug andere, die mutig und unverkennbar bekommen, was sie haben wollen.
Das Original ist in Versform verfasst worden. Lange Zeit gab nur eine Prosaform in Deutsch. In dieser Ausgabe jedoch liegt eine (über hundert Jahre alte) Übersetzung von Adolf von Düring vor, die die Versform beibehält, dafür sollte der Leser also etwas übrig haben. Das ist nicht immer leicht zu lesen, entfaltet aber mit jeder weiteren Seite ganz eigene Reize.
Geoffrey Chaucer konnte leider nicht mehr alle seiner Erzählungen vollenden, unzweifelhaft hätte es noch mehr Figuren und ihre ganz eigene Geschichte gegeben. Doch in den bereits bestehenden Texten zeigt sich die große Bandbreite der Gesellschaft: Liebe und Sexualität, Treue, Ehebruch, Verrat, Habsucht und Tod. Wer „Game of Thrones“ und ähnliche Werke liebte, kommt an Chaucer nicht vorbei.
„Die Canterbury-Erzählungen“ sollten unbedingt in der neusten Ausgabe vom März 2021 gelesen werden, da hier die originale Versform beibehalten wurde.
Ein sehr gern empfohlenes Werk, nicht nur für Fantasy-Leser, sondern alle, die historisch interessiert sind oder gern in Versform lesen.

 

Geoffrey Chaucer wurde um 1340 als Sohn eines reichen Weinhändlers in London geboren. Er genoss eine höfische Erziehung und studierte an der Londoner Juristenschule; siebzehn Jahre lang war er Mitglied des königlichen Hofstaats und heiratete eine Hofdame der Königin. Zwischen 1368 und 1373 wurde er auf verschiedene diplomatische Missionen nach Frankreich und Italien geschickt; dort lernte er u.a. Petrarca und Boccaccio kennen. Ab 1374 lebte er in London, war Hofdichter Richards II., Friedensrichter und Parlamentsmitglied. Nach seinem Tod im Jahr 1400 wurde er in Westminster Abbey beigesetzt. Chaucer gilt als Begründer der englischen Dichtung: Er schrieb in mittelenglischer Sprache und machte diese so hoffähig.

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