Dienstag, 18. April 2023

Die Zone oder Tschernobyls Söhne - Markijan Kamysch

 

Tschernobyl zwischen 2012 und 2014. Der Autor erkundet auf eigene Faust das verstrahlte Gebiet, trinkt verseuchtes Wasser und ernährt sich von Schmalzfleisch.

 

 


Titel: Die Zone oder Tschernobyls Söhne
Autor: Markijan Kamysch
Originaltitel: ОФОРМЛЯНДІЯ або ПРОГУЛЯНКА В ЗОНУ
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
ISBN: ‎ 978-3751808019
Euro: 18,00
Veröffentlichungsdatum: April 2022
Seiten: 180
Serie: nein
Come in: Tausch

 

 

 

Inhalt/Klappentext
Markijan Kamysch ist der Sohn eines sogenannten Liquidators, der zu den Rettungs- und Aufräumtrupps gehörte, die nach dem Reaktorunfall die Schäden vor Ort beseitigten. Seit 2010 führt Kamysch illegale Ermittlungen in der Sperrzone von Tschernobyl durch. Beinahe ein Jahr hat er mittlerweile in dem strahlenverseuchten Gebiet um das Atomkraftwerk und die nahe gelegene Stadt Prypjat verbracht und seine Erlebnisse aufgezeichnet. Sein Buch ist das einzigartige literarische Dokument einer Erkundung, für die er seinen Leib riskiert. Als Sohn eines 2003 an den Folgen der Strahlenkrankheit verstorbenen Ersthelfers gehört er der »Generation Tschernobyl« an. Der Ort, der das Leben seiner Familie und das einer ganzen Gesellschaft änderte, ist für ihn »ein Land des Friedens, gefroren und zeitlos«, in dem er eine Art von Freiheit erlebt, die in den Gefängnissen einer total konsumistischen und nihilistischen Gesellschaft zu einem Raum der Utopie geworden ist. Wie ein Blinder findet er sich dort zurecht und nimmt uns mit auf eine Entdeckungsreise zum »exotischsten Ort der Welt«

 

 


Meinung

Ende April 1986 geschah das Unfassbare: Reaktor 4 des Atomkraftwerks in Tschernobyl explodierte mitten in der Nacht. Zehntausende Menschen im nur vier Kilometer entfernten Prypjat mussten innerhalb von sechsunddreißig Stunden ihre Wohnungen und ihre Lebensgrundlage verlassen. Schließlich wurden sog. Liquidatoren eingesetzt, um eine zweite Explosion zu verhindern und die hoch radioaktiven Stoffe sicher zu verschließen, um noch Schlimmeres zu verhindern. Die meisten von ihnen haben dafür teuer bezahlt.

Der Vater des Autors war so ein Liquidator, auch wenn das nur an einer Stelle erwähnt wird. Er starb 2003, da war Kamysch fünfzehn. Ebenso erwähnt er leider nur, wie das Leben der Menschen danach verlief, offenbar bekamen sie einen Tschernobyl-Ausweis, die Kinder erhielten Sonderrechte, wenn es um kostenlose Fahrten in Ferienlager ging. Vermutlich waren nicht wenige selbst stark geschädigt, auch wenn sie erst danach geboren wurden. Ob es dem Autor gut geht, lässt er nicht verlauten. Im Roman „Die Wolke“ von Gudrun Pausewang meidet man später die der Strahlung ausgesetzten Menschen, als wären sie ansteckend.

Zwischen den Jahren 2012 und 2014 erkundet er oft auf eigene Faust das noch immer verstrahlte Gebiet, dutzende der kleineren Dörfer, die Städte, besonders Prypjat. Was das Buch besonders macht, ist die recht frotzelige, direkte, spöttische, aber eben auch treffende Sprache, in der Kamysch seine Erzählung darlegt. Nicht, dass er viel zu erzählen hätte. Es sind bloße Momentaufnahmen, kaum wirkliche Begebenheiten. Obwohl seit 2011 offizielle Touren rund um Tschernobyl erlaubt sind, erkundet er allein oder mit einem Begleiter die Gegend. Das sei glaubhafter. Besonders seit alles inszeniert in Instagram gelandet ist. Er trinkt das sumpfige Wasser und ernährt sich von Schmalzfleisch. Manchmal übernachtet er in einem Mehrfamilienhaus („Plattenbau“) und zündet im Wohnzimmer einer Familie ein Feuer an, nachdem er die Fenster zerschlagen hat, damit der Rauch abziehen kann. Alte Stühle werden zerschlagen, um es nähren zu können. Und saufen, das ist wichtig, denn ohne Alkohol geht scheinbar nichts. Immer auf der Hut vor den Milizen, die, wenn sie einen erwischen und nicht zu bestechen sind, eine sofortige Festnahme und Anklage verhängen. Mit einer fast toxischen Männlichkeit, die vermutlich nicht immer ernst gemeint ist, schildert er das Leben in der Dystopie. Denn wie eine solche baut er seine Erzählung auf. Gegen Ende zieht es sich, kann er die gewählte Erzählweise nicht immer beibehalten. Aber da schließt er auch schon mit der Überlegung, dass er sich sicher ist, dass all die Besucher sich einst in zwanzig Jahren auf der Krebsstation wiedersehen werden. Ein Bärendienst, den er seinem Vater da erweist.

Was mich besonders beeindruckt hat, war die Schilderung der Umgebung und Natur. Es sind dichte Mischwälder, durch die Kamysch reist. Es gibt Wölfe, Luchse und Rehe. Verschiedene Vogelarten. Moos an den Wänden der Häuser. Die Natur funktioniert scheinbar. Vor einer Weile las ich, dass es Mikroben gäbe, die sich von radioaktiven Stoffen ernähren und diese quasi in etwas Ungefährliches umwandeln. Das soll nichts relativieren, aber es ist ein kleiner Hoffnungsschimmer. Nicht zu vergessen hier jedoch, all die Menschen, die in eben erwähnten Dörfern leben. Oft alte Menschen, Mütterchen, wie Kamysch sie nennt oder Einsiedler. Kein Strom, Wasser aus (verseuchten) Brunnen, aber glücklich. Sie sind ohnehin verseucht, sie wollen in eine Art altes Leben zurück, haben nicht mehr viele Jahre vor sich. Leider erwähnt er sie nur, geht aber nicht weiter auf sie und ihr Leben ein. Einzig, dass sie Waffen tragen und Illegale in der Sperrzone an die Miliz verpfeifen, scheint relevant für die „Abenteuer“ des Autors.

„Die Zone oder Tschernobyls Söhne“ ist lesenswert, vor allem für jene, die sich vor der rotzigen, bildhaften Sprache nicht fürchten. Was es letztendlich sagen will, ist nicht immer klar. Einerseits verurteilt der Autor, nur um es dann selbst zu tun. Die extreme Plünderung der Siedlungen, wie eine Art Entweihung des riesigen Grabmals all der inzwischen Gestorbenen und besonders auch der Liquidatoren, die im vollen Wissen, was geschehen würde (Kamyschs Vater war Atomphysiker), alles getan haben, um Schlimmeres zu verhindern, auf der einen Seite. Und dann zerkloppt er auf der anderen selbst Möbel, zerschlägt Fenster und ähnliches. Er kann emotional offenbar nicht weg, kann nicht verarbeiten. Warum er riskiert, nie gesunde Nachkommen zu haben oder selbst an Krankheiten zugrunde zu gehen, erschließt sich wohl nur Insidern. Persönlich hätte mir eine Schilderung des Lebens in der Gesellschaft der Überlebenden quasi als Gegenüberstellung besser gefallen. Zwar kritisiert der Autor in einem Absatz die Konsumkritik: „Denen, die etwas dagegen haben, dass man im Supermarkt zehn verschiedene Sorten TK-Gemüse und zwanzig Sorten Zigaretten kaufen kann. Ihr seid Arschlöcher. Beißt doch einfach mal nach zwei Wochen Alleinkampf in der Zone in einen Schokoriegel, spürt das Knacken der Haselnüsse auf den ewig nicht geputzten Zähnen, schmeckt das Prickeln einer Brause, dann könnt ihr euch gern über das breite Sortiment an Importprodukten auslassen. Ihr Arschlöcher.“ (Seite 110) Dieser Vergleich sagt sehr viel über Autor und vorliegender Erzählung aus. Aber dazu muss man es selbst gelesen haben. Für alle, die es interessiert, sehr lesenswert.

 

 

Markijan Kamysch, 1988 in Kiew geboren, ist ein ukrainischer Schriftsteller, der den Tschernobyl-Untergrund in der Literatur repräsentiert. Seit 2010 hat er die Sperrzone von Tschernobyl illegal erkundet. Er ist der Sohn eines 2003 verstorbenen Tschernobyl-Liquidators, Atomphysikers und Konstrukteurs des Instituts für Kernforschung in Kiew. Die Zone oder Tschernobyls Söhne ist sein erstes Buch, das in mehrere Sprachen übersetzt und unter großem Beifall veröffentlicht wurde.

2 Kommentare:

  1. Ich kann zu dem Thema, speziell zum Leben nach Tschernobyl und was das für verschiedenste Menschen bedeutete, auch "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft" von Swetlana Alexijewitsch empfehlen.

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    1. Anonym7.5.23

      Vielen Dank fürs Vorbeischauen! :)
      Und danke für den Hinweis! Ich hatte ein anderes Buch der Autorin lange auf der WuLi, bis ich diese ausdünnen musste, weil zu viel darauf stand. Jetzt ist sie wieder drauf. :)

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Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!

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