Lesen - Flucht vor der Wirklichkeit?
Ich für meinen Teil lese sehr gern und ich kann nicht behaupten, dass ich der Wirklichkeit entfliehen will, jedenfalls nicht für immer. Natürlich schaue ich mir gern an, wie der Auserwählte die Welt rettet, wie das Liebespaar zusammenfindet, wie der Mörder gefasst, der Zauberer bekehrt oder der Einsame von seinen Gefühlen übermannt wird. Dabei bleibt der Fernseher im Übrigen aus. Und ich überlege seit Tagen, ob ich ihn nicht gänzlich abschaffen sollte. Was gibt mir die Flimmerkiste, was ein Buch mir nicht geben könnte? Beim Lesen selbst blende ich gern mal den Alltag aus, insofern mag sie recht behalten. Aber mir ist unterschwellig immer klar, dass ich zwei Jobs, (kranke) Familienmitglieder, einen eigenen Haushalt und (wahrscheinlich zu) überfliegende Pläne für meine Zukunft habe.
Ich will den Spieß jetzt keinesfalls umdrehen, aber was, liebe Chefin, ist ein Leben ohne Phantasie? Wie soll ich mir das vorstellen? Und (*grusel) muss ich das überhaupt? Was macht einen Menschen aus, der sich beinahe nur in sich selbst vergräbt, sich der Arbeit und der Familie widmet, sonst aber nicht viele Interessen oder Hobbys (also sich selbst!) pflegt? Ich wage es nicht, mir das vorzustellen. Einsamkeit ist eine starke Hürde, aber auch hier kann die Lektüre bestimmter Themen weiterhelfen. Außerdem gibt es inzwischen, nach englischem Vorbild, Leserunden, bei denen man oft sehr nette Menschen mit dem gleichen Hobby treffen kann. Wenn wir jetzt noch einen Schritt weitergehen würden, dann müsste ich fragen: Was ist mit jenen Menschen, die nicht nur lesen, sondern auch schreiben?
Das Einzige, was ich an der ganzen Sache wirklich traurig finde, ist, dass sie mit Kindern arbeitet.
Bücher enthalten Geschichten. Und wir vergessen nur zu gern, dass unser gesamtes Leben aus eben diesen besteht. Manchmal rutschen wir in eine Geschichte hinein, die sich als Wirklichkeit herausstellt, wie wir sie uns nicht gewünscht hätten. Oder die uns mit einer Realität konfrontiert, mit der wir zunächst nicht umzugehen wissen. Mir hat es von jeher geholfen, wenn ich über ähnliche Schicksale lesen konnte. Zuletzt war es Monika Bittls „Jünger wären mir die Alten lieber“, wo die Autorin humorig mit dem Thema „älter werdende Eltern und deren Betreuung“ umgeht. In kurzen Episoden erzählt sie von Begebenheiten, die von vielen Lesern wiedererkannt werden können, sie verzweifelt aber nicht daran, sie lacht darüber. Mir hat das Buch sehr gutgetan und sei es auch nur, weil ich gesehen habe, dass ich nicht allein mit einer ähnlichen Situation bin.
Das ist nur ein kleines und vermutlich nur für mich wesentliches Thema. Aber die Welt der Bücher ist groß. Sie zeigt uns Welten, Zeiten und Menschen, die unsere Erde fühl- und fassbarer machen. Niemand ist noch der Gleiche, wenn er einen Buchdeckel zugeschlagen hat. (Viel) Lesen ist keine Flucht vor der Wirklichkeit. Es zeigt, dass sich der Leser mit sich und seiner Umwelt intensiv auseinandersetzt. Dies nun als bloßen Eskapismus (Duden: „vor der Realität und ihren Anforderungen in Illusionen oder in Zerstreuungen und Vergnügungen ausweichend“) zu deuten, damit macht es sich die Chefin zu einfach. Wenngleich es leider auch diese negative Seite gibt. Sich mit (oft eher schlichten) Geschichten zu umgeben – auch in Form bewegter Bilder –, die keinem Zweck außer gleichförmiger Unterhaltung dienen, kann in diese Kerbe hauen. Und findet hier vielleicht die überbordende Sehnsucht nach Happy Ends ihren Ursprung? Aber ist es nicht unfair, alle Leser über einen Kamm zu scheren? Und müssten wir es nicht überhaupt der Menschheit seit ihren Tagen zwischen Fell und Höhle antragen?
Doch das Lesen ist so viel mehr! Es vermittelt Sprachgefühl und nicht selten auch Empathie, es stärkt die kognitiven Fähigkeiten, da es neue Verknüpfungen im Gehirn schafft. Im besten Fall bildet es weiter und fordert heraus, es hilft, sich in der (eigenen) Welt besser zurechtzufinden (hinterfragen, hinterfragen). Deswegen ist es mir so wichtig, dass wir wieder lernen, besser hinzuschauen, was wir (qualitativ) lesen und wie. Denn bloße Faktenvermittlung im und-dann-Stil geben niemandem etwas. Doch wie das so ist, macht die Dosis das Gift. Natürlich sind Hobbys wichtig und es gibt wahrlich schlechtere, als Bücher zu lesen, meine ich. Nur dürfen neben allen Begehrlichkeiten nicht die täglichen Pflichten vergessen werden. Zu viel von etwas, kann genauso schädlich sein wie zu wenig. Das zu entscheiden, obliegt jedoch jedem (Leser) selbst, denn was der eine schafft, muss nicht für den anderen gelten. Ab wann ist man Vielleser?
Ich möchte keine Welt ohne Bücher kennen, denn sie sind ein großer Bestandteil von meiner. Liebe ehemalige Chefin: Deine Welt hat Grenzen, meine nicht. All die Emotionen, die ein gutes Buch hervorrufen kann, sind Teil unseres Lebens, unserer Menschlichkeit. Ein Mensch, der nicht liest, hat sich selbst noch nie hinterfragt. Es ist somit keine Bestätigung, die sich ein (Viel-)Leser über seinen Lesestoff holt, es ist Erkenntnis. Denn am Anfang war das Wort.
Einen sehr schönen Text zum Lesen und dessen Vorteilen hat Jay geschrieben. Bitte HIER bei ihm weiterlesen!
Liebe Daniela!
AntwortenLöschenSehr gut. Ähnliche Gedanken sind mir auch schon gekommen, aber ich habe sie nie formuliert. Als Vielleserin und dann noch in der Phantastik unterwegs, ernte ich immer noch gemeine Kommentare, die mich mehr verletzen als sie sollten. Aber ich wachse (immer noch) daran und wenn ich hinter die Literaturkulisse meiner intellektuellen Kritiker*innen gucke, dann weiß ich wieder, dass ich nicht lese, um damit anzugeben ;-).
Gut, dass ich weiß, wer Du bist ;-) Und ja, das kenne ich. Der Stachel damals saß auch recht tief und das obwohl ich den Satz immer noch so wiedersinnig finde. Soll doch jeder machen, was er will. Es gibt sicher Schlimmeres, als zu lesen. Und sei es auch Fantasy. ;-)))
LöschenEin ganz wunderbarer Text, liebe Daniela, der auch mir aus dem Herzen spricht. Gut, dass wir nicht in den engen Grenzen leben müssen und uns für eine riesige Welt voller neuer Eindrücke entschieden haben. Als Lesende.
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Sandra
Hallo Sandra,
Löschenschön, dass Du mal wieder reinschaust.
Danke, ich habe eine Weile dran gewerkelt. Aber es hat mir dann doch, auch nach so vielen Jahren, keine Ruhe gelassen.
Frohe Ostern!