AD(H)S im Erwachsenenalter und die Frage, wieso die Diagnose so spät erfolgt. Die Autorin berichtet über ihre eigenen Erfahrungen.
Titel: Kirmes im Kopf: Wie ich als Erwachsene herausfand, dass ich AD(H)S habe
Autorin: Angelina Boerger
Originaltitel
Verlag: KiWi-Paperback
ISBN: 978-3462004618
Euro: 18,00
Veröffentlichungsdatum: Februar 2023
Seiten: 288
Serie: nein
Come in: vom Verlag
Inhalt/Klappentext
Schätzungsweise 2,5 Millionen Erwachsene sind
in Deutschland von der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz
AD(H)S, betroffen. Die Symptome bei Erwachsenen sehen in der Regel anders aus
als bei Kindern und auch das Bild des klassischen »Zappelphilipps« ist längst
überholt. Aber warum wissen wir über AD(H)S im Erwachsenenalter so wenig? Warum
ist der Weg zur Diagnose so lang? Und wieso erhalten gerade Mädchen und Frauen
oft sehr späte oder falsche Diagnosen?
Diese und mehr Fragen beantwortet Angelina
Boerger in »Kirmes im Kopf«. Sie klärt über die gängigsten Vorurteile gegenüber
Menschen mit AD(H)S auf, berichtet von den neusten wissenschaftlichen
Erkenntnissen – und erzählt mit Leichtigkeit und Witz aus ihrem Alltag: von
Lernkrisen während des Studiums und Busfahrten ans falsche Ende der Stadt über
Stimmungsschwankungen und Schlafstörungen bis hin zu übersprudelnden Ideen und
kreativem Potenzial. Denn das Gehirn von Menschen mit AD(H)S tickt etwas anders
– aber wer sagt eigentlich, dass das etwas Schlechtes ist?
Meinung
Das Buch fällt zunächst durch seine Aufmachung
sehr positiv auf. Der Papierumschlag wirkt hochwertig und ist ein bisschen auf
alt gemacht. Die Schrift setzt sich glänzend ab. Auf der Rückseite ist ein
bunter Farbverlaufstext gesetzt, der ebenfalls glänzt.
Den Inhalt einzuschätzen, traue ich mir, einen Tag nach Beenden des Buches kaum zu, befürchte jedoch, ich könnte es nach einiger Zeit gar nicht mehr. Wirklich informativ ist „Kirmes im Kopf“ leider nicht, es ist in der Tat nichts zu erfahren, was durch eine lose Google-Suche nicht auch herauszufinden wäre, abgesehen von wenigen persönlichen kurzen Storys der Autorin. Stirnrunzeln hat mir jedoch das Geschriebene an sich beschert, wohlgemerkt von einer professionellen Journalistin des WDR. Ich weiß nicht, an welche Zielgruppe die Autorin gedacht hat, als sie über AD(H)S im Erwachsenenalter schrieb, der Text wirkt jedoch so einfach und schlicht, als wäre er für Kinder geschrieben worden. Dazu kommen Passagen, in denen nur kurze und Kürzestwörter verwendet werden. Von den zahlreichen Fehlern (auffällige Schnitzer sogar, z. B. Seite 104) und den überbordend oft vorkommenden Wortwiederholungen fange ich gar nicht erst an. Wenn, wie ich bei dem Verlag annehme, ein Profi über den Text gegangen ist und immer noch so viel drin ist, dürfte es vorher wesentlich schlimmer gewesen sein.
Die einzelnen Kapitel sind kurz und neben oberflächlichem Geplänkel auch gerne mit Zitaten von anderen bzw. generell mit fremdem Content (der aber gekennzeichnet wurde) gefüllt. Nach einer losen Suche, wer die Autorin eigentlich ist, wird klar wieso. Wer stets nur Social-Media-Kanäle befüllt, insbesondere Instagram, kann vermutlich nicht mehr anders, als sich schlicht und kurz auszudrücken.
Das Buch beginnt mit etlichen Seiten losem Geplänkel (Selbstdarstellung, die nicht wie geplant sympathisch macht), ehe die Autorin auf das eigentliche Thema überleitet. Dann gibt es ein paar Definitionen darüber, wie AD(H)S sich ausdrücken kann, ein paar Listen (von offiziellen Homepages) und Allgemeinheiten. Wer sich noch nie mit dem Thema beschäftigt hat, wird Neues erfahren, alle anderen quälen sich durch schlecht geschriebenen Text. Leider wissen auch die paar persönlichen Storys nicht aufzulockern. In einem Podcast hörte ich einige Teile des Buches von der Autorin erzählt. Entweder sie war gerade dabei, das Buch zu schreiben oder sie hat quasi von sich selbst abgeschrieben. Es tut mir leid, man merkt, ich konnte nicht mit dem Buch.
Im letzten Drittel fasst die Autorin in diesem durchgängig gegenderten Text (das immerhin gleichmäßig gut) alle Ismusse an, die nur nebelhaft zum Thema (vor allem Autismus) gehören. Zwar ist es erwähnenswert, dass gerade Frauen später und oft gar nicht erfasst werden, da sich die Symptome von Männern und Frauen unterscheiden, aber da fängt es auch schon an. Die Autorin spricht nämlich nicht von Frauen, sondern von „weiblich sozialisiert“ und leitet zu allen Geschlechtern, die es heute gibt über. Dass es in der Medizin noch einiges zu tun gibt, gerade auch in der (weiblichen) Forschung, wissen wir und es ist zu begrüßen, dass sich an dieser Stelle schon viel tut (mit Luft nach oben, klar). Aber wenn jemand weiblich sozialisiert wurde, ist anzunehmen, dass er in einem weiblichen Körper steckt, der dann auch so medizinisch behandelt werden muss. Ausnahmen wären dann andere Medikamente, in etwas jene, die es zur Geschlechtsumwandlung braucht, warum das anders/Ausnahme ist, liegt auf der Hand. Wie es funktionieren soll, wenn jemand in einem männlichen Körper steckt, sich aber weiblich identifiziert, ist mir bisher unklar. Wohlgemerkt lehne ich das nicht ab. Aber in der Medizin, einer knallharten Disziplin, wo eine Überdosierung lebensgefährlich werden kann, kommt man mit Feelings nicht weit.
Dann verschreibt sich die Autorin der sog. Neurodiversität und stellt sich vor, wie alle Befindlichkeiten (Krankheiten sind es ja nicht, gemeint ist in etwa auch Autismus) in einem Büro arbeiten und jeder auf jeden Rücksicht nimmt und es quasi keine Norm gibt. Eben so, wie sich die Neuzeit gern die gesamte Gesellschaft vorstellt. Und das nachdem sie eine niedliche Geschichte über sich und ihren Lebenspartner erzählt hat, der an ihrer Stelle mit dem Hund rausgeht (sie schafft die Strukturierung des Tages nicht immer) und dann etliche Zeit mit diesem im Regen steht, weil sie vergessen hat, dass er ihr sagte, sie solle die Tür öffnen, wenn er zurückkommt. Dass also andere das auffangen müssen, was sie nicht in der Lage ist zu leisten (das ist keine Wertung!), blendet sie leider komplett aus. Den Mehraufwand, der anderen so entstehen kann, leider ebenfalls. Am meisten meiert mich an, wie durchsichtig alles in Bezug auf die Autorin ist. Wer ihren Werdegang anschaut und in diesem Buch nachliest, wie sie auf Titel und Anliegen kam und dazu weiß, dass sie das als ihr momentanes „daily business“ bezeichnet, kann das einfach nicht richtig ernst nehmen. Die cash cow wird gemolken so lange es geht und dann gibt es eben ein anderes tägliches Geschäft.
Um nicht zu gemein zu werden – und reden könnte ich über die Auffälligkeiten inhaltlicher Art im Text noch lange –, noch kurz, was ich mir gewünscht hätte. Ich bin eine Erwachsene, die sich auch so identifiziert, die gern mehr über das Thema erfahren hätte. Gerade auch der Umgang damit, was man tun kann, wenn, etc. Statt also ein Drittel des Buches dafür zu verschwenden, um aufzulisten wie diskriminiert alle sind (also wirklich alle und PS: Ich habe dank des Buches ein neues Vorurteil gelernt, von dem ich vorher noch nie gehört habe. Hätte ich nicht gebraucht.), hätte ich mir gewünscht, von Alternativen zu Ritalin zu erfahren. Oder wie AD(H)Sler ihren Alltag planen. Die Autorin erwähnt, dass viele das erst lernen mussten, aber leider nicht wie. Was sind die einzelnen Strategien (und hätte ich mich mit Verdachtsfall nicht auch darin erkennen können)? Sie erwähnt ihre eigenen Planer und Zettelchen, geht aber auch hier nicht ins Detail. Und hätte man hier nicht ansetzen müssen? Auch was Gegenstimmen anbetrifft (z. B. Ritalin), gibt es leider nur kurze Erwähnungen, die leider alle in die Richtung „Verschwörungstheorie“ führen, aber nicht kompetent ausdiskutiert werden.
Ganz am Ende gibt es eine Auflistung von deutschen und englischen Instagram-Kanälen, die sich mit AD(H)S oder Neurodiversität auseinandersetzen. Schließlich die Quellen, die zitiert wurden, eine Danksagung. Ende.
Ich kann „Kirmes im Kopf“ leider nicht weiterempfehlen, dazu fehlt es einfach an Substanz und das in jeder Hinsicht.
Angelina Boerger, geboren 1991, ist freie Journalistin und arbeitete für verschiedene funk-Formate und den WDR. Mit Ende zwanzig erhielt sie die Diagnose AD(H)S. Seitdem bertreibt sie online und offline Aufklärungsarbeit zu den Themen mentale Gesundheit, AD(H)S im Erwachsenenalter und Neurodiversität.
Ich habe Anfang des letzten Jahres einen Artikel im Geo gelesen, in dem der Autor von seinem Versuch berichtet hat, im Erwachsenenalter Ritalin abzusetzen und ohne auszukommen. Auf den etwa 10 Seiten scheint man mehr fachliches zu ADHS erfahren zu haben, als in diesem Buch. :/
AntwortenLöschenLG Alica
Ich fürchte fast, das ist so. Mach in obigem Buch die Schrift kleiner und streich die persönlichen Storys und vielleicht noch die Zitate von anderen, dann kommst Du nicht bei sehr viel mehr Seiten heraus.Jemandem, der erstmalig in Kontakt mit dem Thema kommt, mag es etwas geben. Aber der googlet das doch zuerst und schafft sich ein Buch an, um den Sprung zum nächsten Wissens-Level zu machen. Hier vergebens.
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