Samstag, 7. November 2020

(Rezension: gesammelt) Von Grenzschützern und wie Logos unser Leben diktieren

 


No Man's Land: Leben an der mexikanischen Grenze - Francisco Cantú
(Kauf, ME)

Was Francisco Cantú an der amerikanisch-mexikanischen Grenze erlebt, bringt ihn fast um den Verstand. Cantú hat Politik studiert und wollte am eigenen Leib erfahren, was an der Grenze wirklich geschieht. Als Mitglied der United States Border Patrol rettet er Verdurstende aus der Wüste, deportiert aber auch illegale Einwanderer oder erlebt, wie Familien auseinandergerissen werden. In seiner persönlichen Reportage zeigt er, was Grenzen für die Menschen wirklich bedeuten.

No Man’s Land mutet wie eine Tragödie an und bildet doch die Realität wahrheitsgetreu ab, unverzerrt, grausam und zutiefst berührend.

 

Wir hören dieser Tage (nicht mehr ganz so) viel von einer gewissen Mauer, die zwischen den USA und Mexiko gebaut werden soll. Aber was heißt das eigentlich? Warum soll sie dorthin? Und was verspricht man sich davon? Im Zuge dieser Fragen stieß ich auf Cantús Buch und konnte es gebraucht erstehen. Der Autor, selbst Amerikaner mit mexikanischen Wurzeln, hat Politik studiert und folgte seiner Mutter im Job, als er Grenzschützer wurde, um zu verstehen, was an der Grenze tatsächlich vor sich ging (das machen offenbar viele seiner Abstammung, wie er schreibt, nicht wie in der öffentlichen Wahrnehmung ausschließlich „weiße Rassisten“). Er beschreibt, welche Personen aufgegriffen wurden und wie danach mit ihnen zu verfahren war. Er beschreibt, wie viele davon in der Wüste herumirrten, weil man ihnen falsche Versprechungen gemacht hat, sie die Gruppe aufhielten und dann einfach ausgesetzt wurden. Er beschreibt, wie er Verstecke der zahlreichen Drogenkartelle gefunden hat. Und so einiges mehr. Nach einigen Jahren war dann jedoch Schluss für ihn; seinem Bericht ist anzumerken, wie sehr er von der Gesamtsituation ergriffen ist – immer noch. Aber genau hier hätte ich mir gewünscht, der Autor wäre genauer auf Gesetze und eben diese Situation eingegangen. Gerade als Nicht-Amerikaner und/oder Neuling ist vieles nur schwer zu verstehen.

Im letzten Drittel erzählt der Autor von einer Familie, deren drei Kinder (der Älteste ist bereits 15) in den USA geboren wurden und die damit Amerikaner sind. Beide Eltern jedoch wurden in Mexiko geboren und müssen sich daher als illegale Einwanderer bedeckt halten (hier unterscheidet es sich deutlich von der deutschen Gesetzgebung). Das scheint ganz gut zu gehen, der Vater arbeitet in einem Coffeeshop und seine Einnahmen werden sogar ordnungsgemäß ans Finanzamt gemeldet (hier wären mehr Infos wünschenswert gewesen). Als die Mutter des Vaters erkrankt und stirbt, kehrt er trotz der Gefahren nach Mexiko zurück, kann aber nicht mehr legal in die USA einreisen. Beim Versuch, sich geheim über die Grenze zu schleichen, wird er gefasst und interniert. Seine Familie, Freunde und die Kirche versuchen, seine Einbürgerung zu erreichen, aber offenbar entscheidet darüber kein Gericht, sondern jemand hinter verschlossenen Türen.

Es ist eine überaus vertrackte Situation, die der Autor beschreibt. Zum einen streift er leider nur die Situation in Mexiko, ein normales Leben ist dort kaum möglich. Die Bürger werden in mehr als einer Hinsicht bestraft, hier sollte man sich politische und gesellschaftliche Gegebenheiten näher ansehen. Aber es gibt auch sehr gefährliche Leute, die Drogenkartelle in etwa – Cantú erzählt nur wenig, aber was er schreibt, hat es in sich. Diese stellen eine sehr reelle Gefahr dar. Mittendrin die Bürger, die sich oft an Schlepper wenden, die genau wissen, dass sie nicht alle sicher rüberbringen können und auch mal eine Mutter mit kleinem Kind in der Wüste zurücklassen. Ob also statt einer Mauer nicht eher ein hartes Durchgreifen in Mexiko bzw. eine veränderte Gesetzeslage auf amerikanischer Seite mehr bewirken könnten, sei einmal dahingestellt. Dass es sich um ein Problem handelt, das angegangen werden sollte, steht fest. Aber ob man nicht eher die Augen verschließt mit einer Mauer, darüber lohnt sich ein Nachdenken sehr. Außerdem ändert eine solche an der bestehenden Situation derer, die bereits illegal im Land sind, nichts. Das einzig Gute an der ganzen Diskussion ist, dass darüber diskutiert wird. So eine Situation entsteht nämlich nicht über Nacht und sie wird auch über Nacht nicht wieder besser werden.

Das Buch liest sich gut und schnell weg, auch wenn es stellenweise nicht leicht zu lesen ist. Leider wird wörtliche Rede nämlich nicht markiert. Es werden zudem öfter einmal mexikanische Sätze eingeflochten, die leider nicht übersetzt werden. Mittig zieht es sich dann fürchterlich, bis es gegen Ende dann wieder lesbarer wird.

Nichtsdestotrotz hat Cantú ein sehr wertvolles Zeitdokument verfasst, das von mehr Menschen gelesen und beachtet werden sollte.

 

 

No Logo!: Der Kampf der Global Players um Marktmacht - Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern – Naomi Klein (Tausch)

Die führende Intellektuelle unserer Zeit und Bestsellerautorin Naomi Klein offenbart die Machenschaften multinationaler Konzerne hinter der Fassade bunter Logos. Der von ihr propagierte Ausweg aus dem Markendiktat ist eine Auflehnung gegen die Täuschung der Verbraucher, gegen menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, Zerstörung der Natur und kulturellen Kahlschlag.

Denn durch ihre Demystifizierung verlieren die großen, global agierenden Marken an Glanz und Macht – zum Wohle aller.

 

Durch Tausch bin ich an eine Ausgabe geraten, die sich in keinem guten Zustand befand: Wasserschaden über mehrere Seiten, ziemlich griffig. Ich hatte nicht vor, das Buch zu behalten, es schlug sich aber von allein auf und ich begann mittendrin zu lesen, bis ich merkte, dass ich bereits zwei Seiten umgeschlagen hatte. Da musste ich nun durch und habe das komplette Werk gelesen.

Erstmals im Jahr 2000 erschienen, handelt es sich um eine Neuauflage von 2015, die aber nur leicht überarbeitet wurde. Zunächst beschreibt die Autorin, wie die einzelnen Konzerne überhaupt entstanden sind. Die Idee (und Neuerung) dahinter: Verkaufe kein Produkt, verkaufe eine Marke. Wir kennen das von den „No name“-Produkten aus dem Supermarkt, wo vermutlich das Gleiche drin ist wie im gleichen Produkt mit Markennamen drauf, die aber nicht unwesentlich weniger kosten, weil eben dieser Name fehlt. Und das einfach hochgerechnet auf Namen, die in den Neunzigern in aller Munde waren: Nike, Levi’s, Benetton, Body Shop, Disney, etc. Der (Werbe-)Weg hin zu einer begehrten Marke ist lang, also etwas, das unbedingt jeder haben will, auch wenn er eigentlich kein Geld hat, sich Turnschuhe für einhundert Dollar/Euro aufwärts zu kaufen (Herstellungswert keine fünf). Wie bekannte Gesichter, wie z. B. Michael Jordan, benutzt wurden, wird beschrieben. Selbst in den Neunzigern ein Teenager gewesen, kamen viele Erinnerungen in mir hoch. Meine Eltern haben sich (als Gutverdiener) übrigens strikt geweigert, mir Markenklamotten zu kaufen, was ich ihnen heute hoch anrechne (damals sah das anders aus). Interessant war dann aber Kleins Ausführung, wie eben diese Marken die damals wie heute polarisierenden Themen wie Rassismus und Feminismus benutzten – um mehr Waren zu verkaufen. Ich hatte mich schon über den Déjà-vu-Effekt gewundert, weil mir der heutige Diskurs so bekannt vorkam; kein Wunder, es ist im Prinzip auch das Gleiche. Wir haben damals skandiert, was die Werbung uns vorgab und das wird heute auch nicht anders sein. Wie sonst ist das Aufkommen der absolut gleichen Themen in absolut der gleichen Wortwahl bei den jungen Leuten einer Alterskohorte in ganz Europa und den USA zu erklären? Ich frage mich oft, ob die Teens und jungen Leute von heute tatsächlich glauben, das sei alles Zufall und alle hätten plötzlich den gleichen Gedanken gehabt oder seien schlauer als all jene, die vor ihnen waren. Nein, sie werden geführt, genau wie alle, die vor ihnen waren, nur die Themen und/oder deren Aufarbeitung sind andere. Auf Marken und ihre Verkaufsstrategien wäre ich allerdings nie gekommen (auch wenn es kein Geheimnis ist, dass Komzerne viel zu sehr unser Leben bestimmen). Hier schließt Naomi Klein für mich den Kreis, denn plötzlich ergibt sehr vieles Sinn.

Aber die Autorin geht weiter. Sie spricht die desolaten Bedingungen an, in denen Arbeiter diese Produkte herstellen müssen. Meist in Ländern, die sich nicht wehren können. Der Konzern fragt im Land an, stellt Sonderkonditionen – z. B. fünf oder gar zehn Jahre keine Steuern zahlen, Infrastruktur hingebaut bekommen, etc. – und hinterlässt nach kurzer Zeit kaputte Menschen (Schläge, keine Krankenversicherung, Hungerlöhne), kaputte Umwelt und nicht selten auch eine kaputte Wirtschaft. Wenn nichts mehr am Standort zu holen ist oder kein Vertrag zustande gekommen, zieht die Heuschrecke einfach weiter. Was damals meist Indien war oder Venezuela, heißt heute China. Was das Abwandern der Konzerne und Fertigungsstätten für die sog. Westlichen Länder (im Buch besonders erwähnt die USA) bedeutet, macht Klein ebenfalls deutlich. Ein Fan von Bill Gates ist die Autorin übrigens nicht; der heute als selbstloser Philanthrop gehandelte Mann hat sein Geld einst durch das genaue Gegenteil verdient, wovon hier einiges nachzulesen ist.

Überhaupt hat es mich als Sozialwissenschaftlerin (mit anderer Spezialisierung) unheimlich fasziniert, wie stark sich Marken auf uns alle auswirken: gesellschaftlich, kulturell. Soweit, dass kaum zu sagen ist, was von uns kommt und das aus einer Bereicherung für alle heraus (und einer natürlichen Entwicklung, keiner gesteuerten) und was vom Marketing vorangetrieben wurde und nur dem Verkauf einer Marke dient. Wie extrem stark sich dies auf unser alle Denken auswirkt, darüber darf man gar nicht nachdenken. Ich würde gern tiefer ins Thema eintauchen, wer mir dahingehend Literatur empfehlen kann, darf mir gern eine E-Mail schreiben.

Am Ende aber bleibt Klein nicht so pessimistisch wie anfangs. Sie zeigt auf, dass es in unserer Hand liegt. Denn eine Marke kann auch gegen sich selbst gewandt werden und ihre Macht so gebrochen. Den meisten ist das bewusst, sie haben allerdings nichts an ihren Bedingungen angepasst, sondern nur an ihrem Marketing. Reagiert haben andere, wenn auch unter großen Repressalien. Ob die Gesetze aber ausreichen, um diejenigen zu schützen, die auch heute noch unter extremen Bedingungen T-Shirts im Wert von zwei Euro fertigen, die später für dreißig verkauft werden, Tageslohn eins fünfzig, sei mal dahingestellt.

Das Buch jedenfalls hat auch nach zwanzig Jahren nichts an Brisanz und Aktualität verloren. Gehört gelesen!

 

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Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!

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