Autorin:
Anna Wiener
Originaltitel:
Uncanny Valley
Verlag:
Droemer
ISBN:
978-3426277737
Euro:
18,00
Veröffentlichungsdatum:
August 2020
Seiten:
320
Serie:
nein
Come
in: vom Verlag
Meinung
Ende der Nullerjahre ist Anna
Wiener Mitte zwanzig und arbeitet, wie viele junge Frauen dieser Zeit, in einer
kleinen Literaturagentur als Mädchen für alles. Mit keiner rosigen
Zukunftsaussicht und zudem noch unterbezahlt, nimmt sie dankbar die Gelegenheit
wahr, die sich ihr bietet: in einem Start-up im Silicon Valley; inklusive
kompletten Neuanfang. Dort bleibt sie allerdings nur drei Monate, ihre um
einige Jahre jüngeren Chefs besorgen ihr jedoch einen Job bei einem
aufstrebenden Datenanalyse-Start-up. Hier bleibt sie zwei Jahre. Es sind die
umjubelten Anfangsjahre, in denen sich Gründer, Programmierer, digitale
Cowboys, Geldgeber und alles drumherum versammeln, um ein ums andere neue
Business zu begründen. Wiener, die in der Kundenbetreuung arbeitet, fühlt sich
dort nie so ganz aufgehoben, nur der Blick aufs Konto hält sie dort; und sie
verdient außerordentlich gut. Das Leben in San Francisco ist jedoch nicht ganz
billig. Die Autorin beschreibt sehr anschaulich, welche Zahnrädchen ineinander
greifen und welche Steinchen umfallen und sich gegenseitig bedingen. Wer zu
Wieners Buch greift, bekommt einen schonungslosen, manchmal etwas überzogenen,
locker und anschaulich geschriebenen Bericht, der für jüngere Leser vielleicht
etwas besser geeignet ist, da eine Vielzahl von englischen Begriffen durch den
Text geistern, deren Bedeutung man kennen muss – für jene, die sich wenig in
der digitalen Welt bewegen, ist das nicht so einfach.
Leider ziemlich aufgesetzt ist
der feministische Aspekt, den die Autorin einzuflechten versucht. Dahinter
verbirgt sich in den meisten Fällen jedoch eher das Gefühl der Autorin, nicht
gut genug zu sein. Die einzelnen Jobs und deren Stationen werden ihr immer
angeboten oder besorgt, stets von Männern, ihre Kollegen schließen sie nie aus,
sie ist auch nach der Arbeit oft noch beim After-Work-Drink dabei, steigt sogar
zur Chefin der Abteilung auf. Sie wird von ihren Chefs angesprochen, ob sie
noch Freundinnen hat, die gern dort arbeiten würden, da man mehr Frauen in die
Branche bringen würde (sie hat seltsamerweise keine) und als sie eine kleine
Aufgabe im Programmieren gestellt bekommt, scheitert sie daran (keine Lust, am
Wochenende das Buch durchzuarbeiten) und gibt hinterher an, die Aufgabe sei
absichtlich zu schwer gewesen. Sie sagt also oft das eine und zeigt etwas
völlig anderes, was mit steigender Seitenanzahl recht schwer zu verstehen ist.
Erst gegen Ende wird das klarer, als sie versucht, mit einer Frauengruppe die
Hausfrauen der Gegend zum Wählen gehen zu animieren (Stichwort: Trump) – und
auch daran scheitert. So eng wie sie und ihre „feministische Blase“ aus Chats
und Onlinegruppen, sehen das diese nämlich nicht. Wieder ist es seltsam, eine
Frau, die seitenweise beschreibt, wie gläsern uns die digitale Welt gemacht hat
und genau um die Gefahr von dieser „Grüppchenbildung“ weiß, selbst danach
handelt. Mitunter ist die Beschreibung ihres Alltags ein einziger Widerspruch.
Wiener, die in der
Kundenbetreuung arbeitet, hat Zugriff auf alle Daten, wie viele, die in der
Branche arbeiten. Daher weiß man intern, welches hochgejubelte Start-up
eigentlich aus dem letzten Loch pfeift. Es ist jedoch verboten, dieses Wissen
weiterzugeben oder selbst anzuwenden. Vermutlich haben sich nicht alle daran
gehalten, denn eines ist gewiss: in Silicon Valley kann man gutes Geld machen.
Viele der neu gegründeten Unternehmen kaufen sich gegenseitig auf oder holen
neue Geldgeber ins Boot. Auch Angestellte erhalten Wertpapiere der Firma.
Wieder ist der Naivität der Autorin kaum zuzusehen, denn um diese hat sie sich
nie gekümmert. Erst im allerletzten Moment, so beschreibt sie es selbst,
erinnert sie sich daran und kann noch etwas verdienen. Dies nun wieder den
Gründern und ihrem Sexismus vorwerfen zu wollen, ergibt letztendlich wirklich
keinen Sinn mehr.
Aber auch der normale Mensch
auf der Straße ist mehr als nur durchschaubar geworden, jede seiner Bewegungen
ist nachverfolgbar, gerade auch durch das kleine blinkende Gerät, das er in
seiner Tasche herumträgt. Und es gibt eine Menge Leute, die unfassbar viel Geld
dafür bezahlen, dass diese Dinge, die wir tagtäglich tun, analysiert werden.
Vermutlich fällt es den meisten nicht einmal auf, wenn ihnen online Werbung
eines Produkts angeboten wird, das sie just kurz zuvor im entsprechenden Laden
gekauft haben. Gesichtserkennung, Sprachtools, Essenslieferdienste,
Wegeerkennung … „Wenn ich keine Überraschung zeigte, wenn ich zu erklären
versuchte, was vor sich ging, oder sogar zugab, dass ein Teil dessen
tatsächlich etwas mit meiner Arbeit in dem Analyse-Start-up zu tun hatte, kam
ich mir angesichts der Reaktionen meiner Freunde vor wie eine Soziopathin. (…)
Wenn ich aufgelegt hatte, fragte ich mich oft, ob der NSA-Whistleblower der
erste moralische Test für meine Generation von Unternehmern und Tech-Arbeitern
gewesen war und wir ihn vergeigt hatten. Ich blickte in die verwirrten
Gesichter von klugen, hoffnungsvollen, gut informierten Mitgliedern der
Zivilgesellschaft, die mir gegenübersaßen, und dachte bestürzt: Sie wissen es
wirklich nicht.“ (Seite 258)
Diese immer wieder
einfließenden, mitunter fast philosophischen Passagen lassen die restlichen
Widersprüche vergessen. Wiener schreibt flüssig und angenehm, kaum ist es
möglich, das Buch länger aus der Hand zu legen. Am Ende überwiegt der klare
Bericht einer belesenen jungen Frau, die, so scheint es, von Anfang an nicht in
die Welt der nüchternen Zahlen gepasst und sich genau deswegen auch von dieser
wieder losgesagt hat. Wieners Erzählung, so schnell sie auch gelesen ist,
hinterlässt einige tiefgreifende Fragen, an denen wir in Zukunft nicht
vorbeikommen werden. Sehr gerne gelesen.
Anna
Wiener ist Journalistin und
schreibt für den New Yorker, The Atlantic und Wired über das Silicon Valley,
Start-Up-Kultur und die digitale Welt. Sie lebt und arbeitet in San Francisco,
Code kaputt ist ihr erstes Buch und sorgt seit Erscheinen in den USA und
Großbritannien für Furore.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!
Um die Übersicht über Kommentare zu behalten und Missbrauch zu verhindern, speichert diese Webseite Name, E-Mail, Kommentar, IP-Adresse und Zeitstempel Ihres Kommentars. Sie können Ihre Kommentare später jederzeit wieder löschen. Detaillierte Informationen finden Sie unter "Datenschutz" oben unter dem Header. Wer keine Datenübertragung wünscht, hat die Möglichkeit, einen anonymisierten Kommentar zu hinterlassen. Mit der Nutzung dieses Formulars erklären Sie sich mit der Speicherung und Verarbeitung Ihrer Daten durch diese Website einverstanden.