Dienstag, 8. September 2020

Code kaputt: Macht und Dekadenz im Silicon Valley - Anna Wiener

Titel: Code kaputt: Macht und Dekadenz im Silicon Valley
Autorin: Anna Wiener
Originaltitel: Uncanny Valley
Verlag: Droemer
ISBN: 978-3426277737
Euro: 18,00
Veröffentlichungsdatum: August 2020
Seiten: 320
Serie: nein
Come in: vom Verlag








Meinung
Ende der Nullerjahre ist Anna Wiener Mitte zwanzig und arbeitet, wie viele junge Frauen dieser Zeit, in einer kleinen Literaturagentur als Mädchen für alles. Mit keiner rosigen Zukunftsaussicht und zudem noch unterbezahlt, nimmt sie dankbar die Gelegenheit wahr, die sich ihr bietet: in einem Start-up im Silicon Valley; inklusive kompletten Neuanfang. Dort bleibt sie allerdings nur drei Monate, ihre um einige Jahre jüngeren Chefs besorgen ihr jedoch einen Job bei einem aufstrebenden Datenanalyse-Start-up. Hier bleibt sie zwei Jahre. Es sind die umjubelten Anfangsjahre, in denen sich Gründer, Programmierer, digitale Cowboys, Geldgeber und alles drumherum versammeln, um ein ums andere neue Business zu begründen. Wiener, die in der Kundenbetreuung arbeitet, fühlt sich dort nie so ganz aufgehoben, nur der Blick aufs Konto hält sie dort; und sie verdient außerordentlich gut. Das Leben in San Francisco ist jedoch nicht ganz billig. Die Autorin beschreibt sehr anschaulich, welche Zahnrädchen ineinander greifen und welche Steinchen umfallen und sich gegenseitig bedingen. Wer zu Wieners Buch greift, bekommt einen schonungslosen, manchmal etwas überzogenen, locker und anschaulich geschriebenen Bericht, der für jüngere Leser vielleicht etwas besser geeignet ist, da eine Vielzahl von englischen Begriffen durch den Text geistern, deren Bedeutung man kennen muss – für jene, die sich wenig in der digitalen Welt bewegen, ist das nicht so einfach.

Leider ziemlich aufgesetzt ist der feministische Aspekt, den die Autorin einzuflechten versucht. Dahinter verbirgt sich in den meisten Fällen jedoch eher das Gefühl der Autorin, nicht gut genug zu sein. Die einzelnen Jobs und deren Stationen werden ihr immer angeboten oder besorgt, stets von Männern, ihre Kollegen schließen sie nie aus, sie ist auch nach der Arbeit oft noch beim After-Work-Drink dabei, steigt sogar zur Chefin der Abteilung auf. Sie wird von ihren Chefs angesprochen, ob sie noch Freundinnen hat, die gern dort arbeiten würden, da man mehr Frauen in die Branche bringen würde (sie hat seltsamerweise keine) und als sie eine kleine Aufgabe im Programmieren gestellt bekommt, scheitert sie daran (keine Lust, am Wochenende das Buch durchzuarbeiten) und gibt hinterher an, die Aufgabe sei absichtlich zu schwer gewesen. Sie sagt also oft das eine und zeigt etwas völlig anderes, was mit steigender Seitenanzahl recht schwer zu verstehen ist. Erst gegen Ende wird das klarer, als sie versucht, mit einer Frauengruppe die Hausfrauen der Gegend zum Wählen gehen zu animieren (Stichwort: Trump) – und auch daran scheitert. So eng wie sie und ihre „feministische Blase“ aus Chats und Onlinegruppen, sehen das diese nämlich nicht. Wieder ist es seltsam, eine Frau, die seitenweise beschreibt, wie gläsern uns die digitale Welt gemacht hat und genau um die Gefahr von dieser „Grüppchenbildung“ weiß, selbst danach handelt. Mitunter ist die Beschreibung ihres Alltags ein einziger Widerspruch.
Wiener, die in der Kundenbetreuung arbeitet, hat Zugriff auf alle Daten, wie viele, die in der Branche arbeiten. Daher weiß man intern, welches hochgejubelte Start-up eigentlich aus dem letzten Loch pfeift. Es ist jedoch verboten, dieses Wissen weiterzugeben oder selbst anzuwenden. Vermutlich haben sich nicht alle daran gehalten, denn eines ist gewiss: in Silicon Valley kann man gutes Geld machen. Viele der neu gegründeten Unternehmen kaufen sich gegenseitig auf oder holen neue Geldgeber ins Boot. Auch Angestellte erhalten Wertpapiere der Firma. Wieder ist der Naivität der Autorin kaum zuzusehen, denn um diese hat sie sich nie gekümmert. Erst im allerletzten Moment, so beschreibt sie es selbst, erinnert sie sich daran und kann noch etwas verdienen. Dies nun wieder den Gründern und ihrem Sexismus vorwerfen zu wollen, ergibt letztendlich wirklich keinen Sinn mehr.
Aber auch der normale Mensch auf der Straße ist mehr als nur durchschaubar geworden, jede seiner Bewegungen ist nachverfolgbar, gerade auch durch das kleine blinkende Gerät, das er in seiner Tasche herumträgt. Und es gibt eine Menge Leute, die unfassbar viel Geld dafür bezahlen, dass diese Dinge, die wir tagtäglich tun, analysiert werden. Vermutlich fällt es den meisten nicht einmal auf, wenn ihnen online Werbung eines Produkts angeboten wird, das sie just kurz zuvor im entsprechenden Laden gekauft haben. Gesichtserkennung, Sprachtools, Essenslieferdienste, Wegeerkennung … „Wenn ich keine Überraschung zeigte, wenn ich zu erklären versuchte, was vor sich ging, oder sogar zugab, dass ein Teil dessen tatsächlich etwas mit meiner Arbeit in dem Analyse-Start-up zu tun hatte, kam ich mir angesichts der Reaktionen meiner Freunde vor wie eine Soziopathin. (…) Wenn ich aufgelegt hatte, fragte ich mich oft, ob der NSA-Whistleblower der erste moralische Test für meine Generation von Unternehmern und Tech-Arbeitern gewesen war und wir ihn vergeigt hatten. Ich blickte in die verwirrten Gesichter von klugen, hoffnungsvollen, gut informierten Mitgliedern der Zivilgesellschaft, die mir gegenübersaßen, und dachte bestürzt: Sie wissen es wirklich nicht.“ (Seite 258)
Diese immer wieder einfließenden, mitunter fast philosophischen Passagen lassen die restlichen Widersprüche vergessen. Wiener schreibt flüssig und angenehm, kaum ist es möglich, das Buch länger aus der Hand zu legen. Am Ende überwiegt der klare Bericht einer belesenen jungen Frau, die, so scheint es, von Anfang an nicht in die Welt der nüchternen Zahlen gepasst und sich genau deswegen auch von dieser wieder losgesagt hat. Wieners Erzählung, so schnell sie auch gelesen ist, hinterlässt einige tiefgreifende Fragen, an denen wir in Zukunft nicht vorbeikommen werden. Sehr gerne gelesen.


Anna Wiener ist Journalistin und schreibt für den New Yorker, The Atlantic und Wired über das Silicon Valley, Start-Up-Kultur und die digitale Welt. Sie lebt und arbeitet in San Francisco, Code kaputt ist ihr erstes Buch und sorgt seit Erscheinen in den USA und Großbritannien für Furore.

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Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!

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