Titel: Der Stoff, aus dem die Freiheit ist
Autoren: Nathalie Schaller und Lennart Will
Originaltitel
Verlag: adeo
ISBN: 978-3863342913
Euro: 20,00
Veröffentlichungsdatum: März 2021
Seiten: 208
Serie: nein
Come in: vom Verlag
Inhalt/Klappentext
Nathalie Schallers Lebensweg scheint
vorgezeichnet: Abitur, Jurastudium, Karriere. Doch dann lernt sie auf Reisen
nach Indien und Kambodscha Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution
kennen. Das Thema lässt sie nicht mehr los. Welche Perspektive haben die jungen
Frauen nach ihrer Befreiung überhaupt?
Kann Nathalie irgendetwas tun? Sie entscheidet
sich, dem Funken in ihrem Herzen Beachtung zu schenken. Die Vision von einem
außergewöhnlichen Modelabel ist geboren: Mit professionellen Designs – aber vor
allem fair, nachhaltig und humanitär. Die Idee ist revolutionär! Und natürlich
läuft nichts so wie geplant …
Das Buch erzählt vom Träumen, Scheitern, von
Ängsten, Kampfgeist und Vertrauen. Als bunte Collage aus Autobiografischem,
Hintergrundinformationen und harten Fakten ist es eine packende Inspiration für
jeden, der nach seiner Aufgabe im Leben sucht oder davon träumt, die Welt zu
einem besseren Ort zu machen.
Meinung
Ein handliches, schnell gelesenes Hardcover, in
dem inhaltlich eine ganze Menge drinsteckt. Zum Teil erzählt Nathalie Schaller
einen Teil ihrer Biografie, zum anderen davon, wie sie und ihre Mitstreiter ein
Modelabel für humanitäre Projekte ins Leben gerufen haben. Was waren Vor- und
Nachteile, wo lagen Probleme, wo konnte gezielt geholfen werden. Welche
Unterstützung haben sie erhalten? Und was ist nach Jahren aus der Idee, der
Umsetzung und dem Ergebnis geworden?
Das Buch wurde in mehrere überschaubare Kapitel
eingeteilt, die dem Erzählten eine feste Struktur verleihen. Am Ende gibt es
viele Fotos und einen umfangreichen Anhang mit weiterführender Literatur und
Links.
Es gibt nichts am Buch auszusetzen und an der
Sache schon gar nicht – und dennoch glaube ich, dass sich die Autorin keinen
Gefallen mit dem Buch getan hat. Mir stießen etliche Aussagen sauer auf; nicht
zuletzt haben wir hier das, was manche vielleicht als „Wohlstandsbarbie“
bezeichnen würden und nach (wirklichen) Schwierigkeiten oder Problemen sucht
man in dieser Geschichte vergeblich – obwohl ich die Mühe, die in dem Projekt
steckt, nicht kleinreden will.
Zunächst erzählt die Autorin von der Zeit, als
es ihr seelisch nicht gutging. Ihre Eltern hatten sie in ein Leben gedrängt,
das ihr nicht guttat: sie studierte Rechtswissenschaften, da ihr Vater, ein
Anwalt, ihr einst seine Kanzlei übergeben wollte. Ihren Freund liebte sie
nicht. Lieber wollte sie etwas Kreatives tun, das wurde ihr nur stetig
ausgeredet. Hier aber allein die Schuld bei den Eltern zu sehen – das Buch
liest sich manchmal wie eine Abrechnung mit diesen –, ist dann doch ein
bisschen zu einfach gestrickt. Kinder, die immer alles hatten (vermutlich noch
doppelt und dreifach) und die nie um etwas kämpfen mussten und es auch in
Zukunft nicht brauchen, da sie ein Erbe haben werden, kommt der Sache
vermutlich näher. Solche Kinder merken dann auch erst im Studium durch ein
Austauschprogramm, dass es Menschen auf der Welt gibt, denen es (viel)
schlechter geht als ihnen. Dass die Autorin dafür nicht erst hätte einmal um
den Globus reisen müssen, sei einmal dahingestellt. Dass man sich als Leser
allerdings fragt, in welcher rosa Wattewelt sie bis dato gelebt haben muss ... Dieses
Desinteresse an der (Um-) Welt kann man nicht den Eltern antragen.
Die Armut und vor allem die Sklaverei bzw. die
Sexindustrie in Indien haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Anfangs
nahm niemand die Ideen der Autorin ernst. Immerhin hatte sie endlich einmal ein
Ziel vor Augen und blieb dran. Dafür meine volle Hochachtung! Schaller wollte
die Mädchen und Frauen, die aus den Bordellen befreit wurden, unterstützen.
Denn auch danach müssen jene ein Leben führen, was ohne Bildung und Ausbildung
kaum möglich ist. Die Idee, sie an Nähmaschinen zu setzen, ist nicht neu.
Allerdings traf Schaller dann auf Menschen, die eine ähnliche Vision wie sie
besaßen und zusammen ging es dann weiter. Ich habe ein bisschen Einblick darin,
was es heißt, ein Unternehmen zu gründen. Das ist nicht einfach. Aber die
Autorin brauchte nie ein Wagnis einzugehen. Wohin hätte sie fallen sollen? Zwar
schienen die Eltern zunächst nicht begeistert (das änderte sich später), aber
da war noch der neue Freund und spätere Ehemann, die vorherigen Beziehungen
(Stichwort: Privatinvestoren). Zudem handelt es sich um ein Projekt, das zu
fast einhundert Prozent den aktuellen Zeitgeist trifft und so als Startup nach
nur kurzer Zeit auch einige bekannte Gesichter und Preise gewinnen konnte.
Was mich bis zuletzt irritiert hat, war, dass
Schaller unbedingt hippe Großstadtmode für Mitte zwanzig entwerfen und verkaufen
will „abseits des Mainstreams“. Nur wieso? Es soll doch in erster Linie um die
befreiten Frauen gehen? Wieso dann Mode, die nur ein Bruchteil der Menschen
hier kauft/kaufen kann? Mit ein paar sehr selbstgerechten Aussagen muss der
Leser leider lernen zu leben. Zum einen was „Frauen jenseits der fünfzig“
anbelangt in etwa. Die gehören nicht zum gewünschten Käuferkreis, kaufen aber
trotzdem – die Herrenkleidung. Tja, vermutlich weil die Frauenmode, obwohl auch
in XL angeboten, nur Frauen wie die Models tragen können. Die Kastenmode Marke
kommunistisches Arbeitslager ist zu kurz, zu fein, zu untragbar. Hier ist
leider wieder das ehemalige Wohlstandskind zu spüren, kreativ und einzigartig
soll es sein. Was steht hier wirklich im Vordergrund: die gute Sache oder das eigene
Ego? Was um alles in der Welt spräche gegen funktionale, hippe Alltagskleidung
für jedermann? Vielleicht steht sich hier die Wohlstandblase (es tut mir leid,
dass ich darauf herumtreten muss, aber so ist es nun einmal leider) selbst im
Weg, da sie nicht weiß, wie ein Großteil der Menschen in Deutschland lebt?
Die Autorin erzählt, wie es in Indien zuging,
welche Frauen mit welchen Geschichten für sie arbeiten. Wer ihnen hilft und was
sich schließlich auch mit Corona verändert hat. Leider kommen die Informationen
rund um die moderne Sklaverei (doch, liebe Autorin, das wissen sehr viele
Menschen in Deutschland, besonders jene mit wachen Augen), besonders in der
Sexindustrie zu kurz. Sie werden oft nur erwähnt, zwar auch mit Zahlen
untermauert, hätten aber, da sie das Kernstück des Buches bilden sollten, mehr
Seiten verdient. Dass Deutschland inzwischen der größte Umschlagplatz in Sachen
Prostitution ist, sollte keine Neuigkeit sein. Leider hat auch hier der
aktuelle Zeitgeist nichts Gutes bewirkt. Vorrangig sollten mit gewissen
Gesetzen vor einigen Jahren die Prostituierten aus ihrer illegalen Grauzone
befreit werden, bewirkt hat es das Gegenteil – genau wie es mehrfach
prognostiziert wurde. Wer hier kräftig mitverdient, sollte kein Geheimnis sein
und nein, es sind sicher nicht die Prostituierten selbst. Das war Marke Gutmensch: gut gemeint, aber nicht gut
gemacht. Warnungen gab es genug, gehört wurde keine einzige. Und ja, ich bin
über solche Verläufe (ich habe schon vor Jahren zu dem Thema geschrieben)
äußerst frustriert. Diese Schnellschüsse fürs eigene Ego schaden letztendlich
uns allen.
Zum Buch. Ich glaube, es ist zu spüren, dass
ich mit der Autorin nicht warm werde. Leider kann ich so auch nicht ganz
glauben, dass es allein um die Wohltätigkeit geht. Eine Anleitung zum
Selbermachen oder mutig sein ist das leider auch nicht. Wer keine so überaus
günstigen Ausgangsvoraussetzung hat, wird über eine Ideenfindung nie
hinauskommen. Ohne Sicherheiten kein Geld. Und Mut … den braucht es zudem.
Dennoch meine Hochachtung für das Projekt, dem
ich persönlich alles Gute wünsche. Leider war bei den vorgestellten Produkten
nichts für mich dabei, eine Spendennummer habe ich nicht gefunden. Denn in
Zeiten des Lockdowns sind die Läden dicht, ohne Onlineverkauf ginge es nicht
weiter. Auch der Umstieg auf handgenähte Stoffmasken nutzt leider nichts mehr,
da sie nicht mehr getragen werden dürfen.
Der Einblick in die Modeindustrie und mit
welchen Problemen bei Näherinnen, die seelisch viel verkraften müssen und meist
nie eine Schule von innen gesehen haben zu rechnen ist, habe ich sehr genossen.
Davon nächstes Mal gern mehr. Ich drücke allen die Daumen und wünsche ihnen alles
Gute für die Zukunft!
Nathalie Schaller ist 1984 in Böblingen geboren, verheiratet, zwei Kinder. Nach ihrem Jurastudium gründete sie mit ihrem Mann und einer Modedesignerin das erste humanitäre Modelabel Deutschlands. Bei [eyd] steht nicht der Profit, sondern das Wohlergehen der Produzentinnen im Vordergrund. Die traumatisierten Frauen, die in den Partnerwerkstätten in Indien und Nepal arbeiten, werden therapeutisch betreut und befähigt, ihr Leben selbst zu gestalten. [eyd] ist im deutschsprachigen Raum in über 50 Concept Stores vertreten, bei Konferenzen, Festivals, Messen und Pop-Up-Stores.
Lennart Will ist 1986 in Annaberg geboren, Germanist, seit 2009 als Redakteur, Lektor und Autor tätig und arbeitet als Texter/Konzeptioner im Gestaltungsbüro atelier 522 am Bodensee.
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Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!
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