Freitag, 17. Januar 2020

Unter den Armen und Elenden Berlins - Hans Richard Fischer


Titel: Unter den Armen und Elenden Berlins: Streifzüge durch die Tiefen der Weltstadt
Autor: Hans Richard Fischer
Originaltitel
Verlag: Walde + Graf
ISBN: 978-3946896449
Euro: 15,00
Veröffentlichungsdatum: September 2019
Seiten: 128
Serie: nein
Come in: vom Verlag









Inhalt/Klappentext
Ein Meilenstein der investigativen Berichterstattung: Hans R. Fischers eindringliche Sozialreportagen aus dem Berlin der Gründerzeit erstmals seit 1887 in einer Neuauflage.
1887 sorgte ein schmales Buch mit dem Titel Unter den Armen und Elenden Berlins – Streifzüge durch die Tiefen der Weltstadt für Furore. Für seine einfühlsamen Reportagen vom Rand der Gesellschaft hatte der erst 24jährige Journalist Hans Richard Fischer als Bettler verkleidet einige Nächte im Asyl für Obdachlose in der Berliner Friedrichstraße verbracht, die unterschiedlichsten Stätten der Prostitution aufgesucht oder die „Irrenanstalt“ Dalldorf (bis 2006: Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, Berlin-Wittenau) besichtigt und damit in Deutschland ein journalistisches Genre mitbegründet, mit dem er engagiert Mißstände in
der Gesellschaft aufzeigte. Er unterschied sich im Ton und bei der Auswahl seiner Themen von den populären Sensationsjournalisten seiner Zeit, die dem bürgerlichen Publikum im reißerischen Reportagestil und sehr anekdotenhaft die dunklen Seiten Berlins, sein Dirnen- und Verbrechertum vorführten. Fischers Blick ist voll Mitgefühl und doch ohne Pathos und deshalb sind seine Schilderungen bis heute sehr eindringlich und aufschlußreich und ein zeithistorisch bedeutendes Dokument.


Meinung
Fischers Buch rund um das Leben am Rand der Gesellschaft erschien erstmals 1887 und war damals etwas Besonderes. Der erst vierundzwanzigjährige Journalist hat sich für seine Recherchen als Bettler verkleidet, in Obdachlosenunterkünften genächtigt und mit Betroffenen gesprochen. Seiner Zeit war er damals weit voraus.
In Berlin hat er quasi alles, was damals vorhanden war, besucht – auch durchaus legitim als Pressemitarbeiter – und in lebendigem Erzählton dargelegt. Den Texten ist anzumerken, dass es ihm nicht darum ging, für Furore und Skandälchen zu sorgen, sondern darum, eine breite Öffentlichkeit auf die Not der unteren Schichten aufmerksam zu machen.
Dabei ist er jede Unterkunft durch. Er hat Obdachlosenunterkünfte (für Männer) besucht, das von Nonnen betreute Magdalenenstift, Arbeitshäuser, Kinderhäuser, Irrenanstalten und ein Siechenhaus. Obwohl seine Zeit mehr als spürbar wird, ist es erschreckend, wie wenig sich in knapp einhundertzwanzig Jahren verändert hat. Und das ist das wirklich Traurige daran.
Die Reportagen sind nicht lang und trotz der damals gängigen und nicht der Neuzeit angepassten Rechtschreibung gut zu lesen. Fußnoten ergänzen das, was heute nicht mehr allgemeines Wissen darstellt. Im Nachwort wird gewarnt, dass man Fischer als Zeitdokument lesen müsse, dass in etwa das Frauenbild noch ein anderes gewesen ist. Allerdings finde ich nur wenig wirklich Sexistisches. Zwar schreibt er im Haus der Acht- bis Vierzehnjährigen, diese trügen die Unschuld nicht mehr auf ihren Wangen, wer jedoch zwischen den Zeilen liest, erkennt, dass er die anklagt, die diesen Mädchen eben jene geraubt haben, in etwa weil sie sie verkauft hätten. Mehr als solch eine Erwähnung gibt es allerdings nicht, was genau mit Mädchen und Frauen geschehen ist, damit sie am alleruntersten Rande der Gesellschaft angekommen sind, dafür verwendet er nur wenige schmale Worte.
Fischer, der selbst im Armenhaus gelebt hat, scheint mit einer anderen Herangehensweise die Zustände schildern zu wollen als die meisten seiner Zeit- und Arbeitsgenossen. Er hat ein klares Auge, auch für Einzelheiten, und vermag es gekonnt, seine Umgebung auch denen zu zeigen, die bisher vermutlich nicht einmal von der Existenz solcher Einrichtungen wussten. Er verweist auf einige Gesetze, die es den meisten unmöglich machten, aus dem Sumpf herauszukommen. Er zeigt Männer, Frauen, Kinder, er zeigt Familien. Manchmal war ich nicht sicher, ob er nicht doch ein bisschen schönschreibt, wenn er in etwa offiziell mit dem Leiter einer der Unterkünfte in eben dieser umhergeht und alle Bewohner achtungsvoll grüßen und Lobpreisungen von sich geben oder sogar Lieder singen. Das könnte auch Stil seiner Zeit sein, denn die meisten sozialen Einrichtungen wurden nicht vom Staat, sondern Privatleuten (durchaus bekannte Namen, denn auch Industrielle waren darunter) finanziert. Wenn Betroffene dann artig Danke sagen und Respekt zollen, müssten sie damit voll im Trend gelegen haben.
Die Neuauflage dieses unschätzbaren Zeitgeistes ist nicht nur für Sozialwissenschaftler oder Historiker interessant, sondern liest sich auch für alle Interessierte sehr angenehm und flüssig. Das waren echte Menschen! Damals wie heute eine unbedingte Leseempfehlung.


Hans Richard Fischer, geboren 1863 in Jauer (Schlesien) verbrachte als Waise seine Kindheit bei Pflegeeltern und im städtischen Armenhaus Breslau. Weil er armutsbedingt die Volksschule nicht bis zum Ende besuchen konnte, bildete er sich durch Selbstunterricht fort. 1883 ging er zunächst nach Berlin und trat 1898 eine Stelle als Redakteur beim Mainzer Anzeiger an. 1907 wurde er Chefredakteur der Neuen hessischen Volksblätter in Darmstadt.


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Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!

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