Donnerstag, 25. September 2025

(Gastkolumne) Zwischen Streaming und Stille – Hat der Roman noch eine Zukunft?

 

(Gastbeitrag von Lilie Wordsworth)

 

Es ist 21:43 Uhr. Der Roman auf meinem Nachttisch liegt schon seit Wochen unberührt da. Heute habe ich mir vorgenommen, ihn endlich zu lesen – doch statt die Seiten aufzuschlagen, greife ich nach der Fernbedienung. Die nächste Episode einer Serie wartet. Nur noch eine Folge, denke ich. Fünfundvierzig Minuten später werde ich in die nächste Geschichte eingesogen, deren Handlung nie mehr als zwanzig Minuten Pause zwischen den dramatischen Wendepunkten lässt.
Der Roman wartet weiterhin.
Geduldig.
Wie immer.

Diese Szene spielt sich nicht nur in meiner Wohnung ab, sondern ist zur Realität vieler Menschen geworden. In einer Zeit, die von ständiger Reizüberflutung geprägt ist, haben sich unsere Lesegewohnheiten drastisch verändert. Streamingdienste wie Netflix, Disney+ und Co. bieten unaufhörlich neue Serien und Filme an, die uns visuell unterhalten und unsere Aufmerksamkeit schnell fesseln sollen. Die Auswahl ist riesig, und es gibt immer etwas Neues zu entdecken. Der Roman hingegen – das Format, das jahrhundertelang das Bild der Literatur geprägt hat – scheint in dieser Welt von schnellen Bildfolgen und ständigem Strom an Informationen fast wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten.

Der Roman als Langform in einer Welt der Kurzfristigkeit

Der Roman ist keine schnelle Unterhaltung. Er fordert uns. Während Streamingdienste scheinbar darauf aus sind, die Zeitspanne unserer Aufmerksamkeit immer weiter zu verkürzen, verlangt der Roman Geduld. In einer Serie entfaltet sich die Handlung in wenigen Minuten – schnelle Wendungen, schnelle Vergnügungen. Der Roman jedoch ist oft langsam, zieht uns tiefer in die Figuren, ihre Gedanken und die komplexen Strukturen der Erzählung. Eine Stunde kann mit einem einzigen Kapitel gefüllt werden, das die Zeit der Charaktere und ihre inneren Konflikte auslotet.

In gewisser Weise ist der Roman ein Bollwerk gegen die Schnelllebigkeit der modernen Welt. Es ist nicht so, dass der Roman langsamer ist – er fordert uns nur auf, langsamer zu werden. Eine Episode einer Serie gibt uns das Gefühl von Erfüllung, als hätten wir schon etwas erreicht. Ein Kapitel eines Romans hingegen lässt uns oft mit Fragen, Zweifeln und Interpretationsspielräumen zurück, die eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Text verlangen. Der Roman fordert nicht nur den Verstand, sondern auch das Gefühl und die Vorstellungskraft der Leser:innen heraus.
Was geht verloren, wenn wir nur noch streamen?

Wenn wir uns immer weniger dem Buch zuwenden, verlieren wir mehr als nur eine Form der Unterhaltung. Der Verlust ist subtil, aber tief. Wir verlieren den Zugang zu inneren Welten – zu den komplexen Gedanken und Gefühlen von Figuren, die uns in einem Roman oft über lange Zeiträume begleiten. Wo Serien und Filme uns durch ständige visuelle Reize ablenken, zwingt uns der Roman, uns mit den gedanklichen und emotionalen Bewegungen einer Figur auseinanderzusetzen, die nicht sofort greifbar sind.

Der Roman erlaubt es uns, zwischen den Zeilen zu lesen – und gerade das, was zwischen den Zeilen liegt, macht oft die wahre Tiefe einer Geschichte aus. Es sind die Pausen, die Unausgesprochenen, die Zweifel, die Nichtgesagten – all das, was uns in einem Film oder einer Serie sofort gezeigt wird, aber in einem Buch oft nur zwischen den Sätzen flirrt. Bedeutung entsteht durch die Leerstellen. Und gerade die Leerstellen fordern uns heraus, als Leser:innen aktiv zu werden, zu interpretieren.
Nachzudenken.

Die Konsequenz aus dieser Entwicklung ist eine Verschiebung unserer kognitiven Gewohnheiten. Wir verlieren die Fähigkeit, uns auf eine Erzählung wirklich einzulassen, sie in ihrer Tiefe zu begreifen. Wir haben keine Zeit mehr für das langsame aufeinander aufbauen von Bedeutung. Wir sind auf der Suche nach der schnellen Belohnung – der schnellen Unterhaltung.

 Die Renaissance der Stille – Eine Rückkehr zur Tiefe?

Doch inmitten dieser digitalen Überflutung gibt es einen bemerkenswerten Gegentrend: Die Rückkehr des Lesens.
Besonders in den letzten Jahren haben soziale Medien wie Bookstagram und BookTok eine neue Wertschätzung für das Medium Buch hervorgebracht. Auf diesen Plattformen teilen Menschen ihre liebsten Lektüren, entdecken neue Geschichten und diskutieren in tiefen, ausführlichen Rezensionen über die Bücher, die sie gelesen haben. Der Roman ist nicht tot – er hat nur eine andere Form der Anerkennung gefunden.

Gleichzeitig erleben wir eine Wiederentdeckung des Lesens als Kunst. In einer Zeit, in der die meisten von uns ein ständiges Bedürfnis nach Unterhaltung haben, gibt es zunehmend mehr Menschen, die nach etwas suchen, das den schnellen Bildwelten der Streamingdienste nicht entspricht. Es ist die Stille, die wir wieder schätzen. Die langsame Bewegung, die der Roman uns erlaubt. Hier können wir abschalten – nicht im Sinne von Flucht, sondern als aktiver Prozess des Erlebens.

Der Roman als Medium bietet genau das, was viele Menschen in der heutigen Welt suchen: eine Möglichkeit, sich in eine Geschichte zu vertiefen, die über vierzig Minuten hinausgeht und uns wirklich fordert nachzudenken, zu fühlen und zu hinterfragen.

Plädoyer für das Erzählen – Der Roman ist mehr als nur ein Format

Hat der Roman noch eine Zukunft?
Ja, mehr denn je. Er ist nicht nur ein Relikt der Vergangenheit, sondern ein konsequenter Bestandteil unserer kulturellen Zukunft. Inmitten des digitalen Lärms bleibt der Roman ein Ort der Reflexion, des Nachdenkens und des Eintauchens in die Tiefe. Er bietet uns die Möglichkeit, unsere innere Welt zu erkunden und uns in den Gedanken und Gefühlen von Charakteren zu verlieren, deren Leben oft viel komplexer und vielschichtiger sind als die flimmernden Bilder, die uns aus den Bildschirmen entgegenkommen.

Vielleicht muss der Roman sich nicht der modernen Welt anpassen. Vielleicht ist es gerade das, was uns weiterhin an ihm fesselt – seine Unangepasstheit, seine Widerstandskraft gegenüber der ständigen Beschleunigung. Der Roman ist ein Raum, der in seiner langsamen Geschwindigkeit und Unmittelbarkeit mehr über uns und die Welt verraten kann als jede Serie, jede Minute der schnellen Unterhaltung.
Vielleicht müssen wir den Roman nicht retten – der Roman rettet uns.

 

Was denkst du?
Greifst du heute noch regelmäßig zu Romanen – oder hat Streaming in deinem Alltag gewonnen? Ich freue mich auf deine Gedanken in den Kommentaren.

 

 

2 Kommentare:

  1. Anonym31.10.25

    Wenn mir der Input von Außen zuviel wird, sich die Nachrichten überschlagen, mein Smartphone unentwegt irgendwas von mir will (oder die Menschen, mit denen ich verbunden bin), dann schnappe ich mir ein Buch. Denn dann kann ich alles um mich herum vergessen. Ich höre auch keine Musik oder so. Einfach lesen ist herrlich. Allerdings bin ich seit Kindertagen gewöhnt zu lesen und ich lese wirklich jeden Tag und wenn es nur ein paar Seiten sind.
    Ab und an lese ich auch in einer Grundschule vor und da ändert sich gerade etwas. In meiner Gruppe sind Kinder, denen nie oder selten vorgelesen wird. Die halten es nicht aus, 30 Minuten einfach nur da zu sitzen und zuzuhören. Ich merke, dass die das nie gelernt haben. Das macht mich tatsächlich sehr nachdenklich. Wenn diese Generation immer nur kurze Häppchen an Unterhaltung serviert bekommt, dann werden sie verlernen, sich auf längere Formate und dazu gehören eben Bücher, einzulassen.
    Sollte ich mal Enkelkinder haben, dann wird denen vorgelesen ;-). Ich habe alle tollen Bücher aufgehoben. Und meinem Nenn-Enkelkind habe ich auch schon ein Fühlbuch in die Hand gedrückt. *kicher* Die ist erst 9 Monate, aber das Fell vom Tiger fand sie schon toll.
    Ich sehe das als meine Mission. Für irgendwas sind alternde Leseratten ja vielleicht noch nützlich ;-)

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    1. Danke für Deine ausführliche Meinung! Ich habe just eben einen Text aus einer Onlinezeitung gelesen, in dem steht, dass die Schüler heutzutage es hassen, wenn sie Bücher lesen müssen. Die Lehrerin erzählte, sie läsen gerade "1984", aber in Kapitel 3 haben die meisten gesagt, sie hätten es nicht verstanden, ob man nicht noch mal von vorn anfangen könne. Und das taten sie. Sie liest den Schülern übrigens vor. Warum? Weil von 30 Schülern nur 5 selbst ein Buch lesen können ... Die Kinderseelen werden so überanstrengt, sie können sich einfach nicht konzentrieren, weil überall was anzugucken ist und es spielt Musik ... Von Handy und Tablet fange ich da gar nicht erst an. Aber wenn ich an die Kids in meiner Umgebung denke, wo Vier- und Fünfjährige immer noch gewindelt werden ... das liegt alles an uns selbst! Darum super, dass Du quasi schon in den Startlöchern steckst! :) "Knister"bücher sind auch immer ein Hit!

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Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!

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