Autorin: Johann Hari
Originaltitel: Lost
Connections
Verlag: HarperCollins
ISBN: 978-3959672689
Euro: 20,00
Veröffentlichungsdatum: Februar
2019
Seiten: 448
Serie: nein
Come in: Vorablesen.de
Meinung
Immer
mehr Menschen weltweit, auch und gerade in Deutschland, leiden an Depressionen.
Hari ist seit seiner Jugend mit teilweise schweren Ausprägungen davon betroffen
und bekam recht schnell gewisse Medikamente dafür. Sehr von diesen überzeugt,
nahm er alle Nebenwirkungen in Kauf und pries auch im Freundes- und
Verwandtenkreis deren Wirkung an. Bis er ein Schlüsselerlebnis hatte und sich
intensiv mit Depressionen auseinandersetzte. Was er herausfand, ließ ihn mehr
und mehr zweifeln. War alles, was in den letzten Jahren über Antidepressiva
gesagt wurde, eigentlich wirklich richtig? Warum wirken dann Placebo-Medikamente
ebenfalls in einer sehr großen Anzahl? Hari forschte unermüdlich und spürte
schnell, dass er da etwas auf der Spur war. Seine intensive Forschung hat er in
dieses großartige Werk gepackt. Hari reiste einmal quer um die Welt, sprach mit
Betroffenen wie auch Wissenschaftlern und kam schließlich zu einem
spektakulären Ergebnis.
Dazu
holt er allerdings erst einmal weit aus, was nötig ist, da er wirklich etwas zu
sagen hat. Er berichtet dabei über diejenigen, die diese Medikamente herstellen,
wo und wie das geschieht und was für eine riesige Industrie eigentlich
dahintersteckt. Erschreckend ist besonders, dass die Lobby selbst Studien und
Untersuchungen finanziert und es sich durch Kontakte in die Politik erlaubt,
diese so zurechtzubiegen, wie es gerade gebraucht wird.
Betont
werden muss, dass Hari sich nicht über Betroffene erhebt und auch kein Tagebuch
eines solchen vorlegt. Er geht sehr wissenschaftlich, wenn aber auch äußerst
unterhaltsam geschrieben an die Sache heran. Dabei greift er immer wieder auf
sozialwissenschaftliche Studien zurück – selbst Soz.wiss. konnte ich das Buch kaum
aus der Hand legen.
Im
zweiten Teil, dem größten, benennt und erklärt er neun Ursachen für
Depressionen. Es liegt ihm nicht daran, die Krankheit abzuwerten, sondern weist
daraufhin, dass viele Diagnostizierte unter Umständen schlicht in einer der
neun Ursachen stecken. In etwa benennt er eine Mutter, die ihr Kind verloren
hat und dass ihr in so einem Fall laut Leitfaden für Depressionen von
Ärzteseite aus nur eine bestimmte Zeit der Trauer zugestanden wird. Alles, was
darüber hinausgeht, wird als Depression klassifiziert und mit Medikamenten
behandelt. Weitere Punkte sind in etwa: abgeschnitten von sinnvoller Arbeit,
von Mitmenschen, ein Kindheitstrauma, Ängste usw. Er bricht eine riesige Lanze
dafür, die leidenden Menschen nicht sofort mit Medikamenten ruhig zu stellen,
sondern deren Ursachen auf den Grund zu gehen. Manchmal reicht es vielleicht
schon aus, ein paar der von ihm genannten Punkte zu ändern, um aus einem tiefen
Loch zu kommen. Manchmal funktioniert das allein, manchmal nur mit Hilfe.
Hari
geht das Thema nicht in erster Linie als Betroffener an, sondern als
Journalist, ohne in Fachtermini zu versinken, er erzählt immer lebendig, locker
und sehr ansprechend, auch für Laien. Dabei beleuchtet er das jeweilige Thema
von allen Seiten und klärt fundiert über die derzeitigen Zustände auf. Aber
schließlich steigert er das noch und steht für allgemeine gesellschaftliche
Veränderungen ein. Hari ist unter anderem auch in Deutschland aufgewachsen und
bezieht sich auch oft darauf. Vieles von dem, was er beschreibt, kann in den
letzten Jahren in vielen Schriften nachgelesen werden. Die Politik dieses
Landes hat leider nicht zu einer allgemeinen Verbesserung beigetragen, die
unfassbar hohe Zahl an Obdachlosen, Menschen, die an Suppenküchen und ähnlichen
Einrichtungen anstehen und auch die steile Kurve der Fälle von Burnout und
Depression kommen nicht von ungefähr. Hari zeigt hervorragend auf, was genau
falsch läuft, besonders im Sektor „Arbeit“, aber eben auch hinsichtlich
gewisser Verbindungen von Lobbyismus, die kein Zufall sein können.
Im
dritten Teil beginnt Hari damit Geschichten zu erzählen, von Menschen, die nach
Lehrbuch als depressiv klassifiziert worden wären, die aber dann eine oder
mehrere Dinge in ihrem Leben gemeinsam in die Hand genommen haben und für die
sich dann auch sehr viel verändert hat. Hier ist er für meinen Geschmack
allerdings zu nah am Zeitgeist gewesen und verliert sich stark im pathetischen
Ethos. Das schadet allerdings nicht, da er zeigt, dass jeder etwas bewegen kann
– wenn er lernt, sich selbst geistig und körperlich in Bewegung zu setzen.
„Der
Welt nicht mehr verbunden“ zeigt schon allein durch seinen Titel, was die
größten Probleme unserer Zeit sind. Hari listet diese auf, untermalt sie
gekonnt mit wissenschaftlichen Studien und zeigt ebenfalls Lösungswege auf. Es
ist tatsächlich schade, dass wir unsere Wurzeln so weit vergessen oder
beiseitegeschoben haben und es ist dringend notwendig, dass wir uns wieder mehr
auf das besinnen, was wirklich wichtig ist im Leben. Danke, Johann Hari, für
dieses wichtige Buch!
Johann Hari, hat
u.a. für die New York Times, Guardian und Le Monde geschrieben. Für seine
journalistische Arbeit wurde er mit dem Martha Gellhorn Prize for Journalism
ausgezeichnet und zweifach zum Journalisten des Jahres ernannt. Sein
Enthüllungsbuch „Drogen. Die Geschichte eines langen Krieges“ wurde in elf
Sprachen übersetzt und wird derzeit verfilmt. Sein vielbeachteter TED-Talk über
die Funktionsweise und Lösung von Süchten hat bereits 20 Millionen Zuschauer
erreicht.
Sali, Daniela.
AntwortenLöschenJust in den Staaten gibt es die Ansicht, daß sich gegen jede Ungemach eine Pille finden läßt. Manchmal sicher sinnvoll, so manches Mal aber auch eine Aktion mit der Keule: weil vielleicht ein Gespräch (mit wem auch immer) schlicht sinnvoller wäre.
Bedenklich wird es, wenn plötzlich ein pubertäres Verhalten zur Krankheit deklariert wird.
Mitunter die Nebenwirkung eines hauptsächlich auf großmöglichen Profit ausgerichteten "Gesundheitswesens".
bonté
Hallo Rob,
Löschenschön, dass Du mal wieder reinschaust :)
Ja, leider und so etwas schwappt ja gerne mal über den großen Teich. Mich hat das Buch auch begeistert, weil ich viele Gedanken ebenfalls unbewusst schon hatte und weil er tatsächlich nicht persönlich, sondern professionell an das Thema herangeht.
LG
Daniela
...ein wenig macht sich ja das Alter bei mir bemerkbar, wenn ich Abends eher einnicke (bevor ich an einen sinnvolen Kommentar denken könnte). Sorry.
LöschenMein Langsofa ist aber auch zu gemütlich... ;-)
bonté
Kenne ich :) Umso schöner, wenn Du trotzdem noch ab und an reinschaust :)
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