Donnerstag, 26. Juni 2025

Das letzte Viertel des Mondes - Chi Zijian

 

Eine betagte Ewenkin erzählt aus ihrem Leben – ein Dasein im Einklang mit Rentieren, Jahreszeiten, Mythen und Geistern, aber auch ein Leben, das zunehmend in den Schatten der Moderne gerät.

 

 


Titel: Das letzte Viertel des Mondes
Autorin: Chi Zijian
Originaltitel: The Last Quarter Of The Moon
Verlag: Karl Blessing Verlag‎
ISBN: ‎978-3896677594
Euro: 26,00
Veröffentlichungsdatum: Mai 2025
Seiten: 416
Serie: nein
Come in: vom Verlag

 

 

 

InhaltKlappentext
Eine alte Frau blickt auf ihr Leben: Sie ist die Witwe des letzten Häuptlings der Ewenken, eines Nomadenvolkes an der russisch-chinesischen Grenze. Ihre Existenz und die ihres Stammes sind bestimmt von den klaren Regeln der Gemeinschaft, der engen Symbiose mit der Natur, den Rentieren, der Jagd, den Wäldern. Doch im China des 20. Jahrhunderts machen die politischen Umwälzungen auch vor der Welt der Nomaden nicht halt. Die japanische Besetzung der Mandschurei zwingt die Männer in den Krieg, der Sozialismus der Mao-Zeit die Familien in die Städte und in geschlossene Häuser. Nur die alte Frau und ihre Sippe halten unbeirrt an ihrer traditionellen Lebensweise fest.

Mit diesem außergewöhnlichen Roman setzt die preisgekrönte Schriftstellerin Chi Zijian dem Volk der Ewenken ein Denkmal und gibt Einblick in das China der Vergangenheit und Gegenwart.

 

 


Meinung
„Das letzte Viertel des Mondes“ befasst sich mit der rauen, geheimnisvollen Welt der Ewenken, eines indigenen Volks im äußersten Norden Chinas. Die Geschichte wird von einer betagten Ewenkin erzählt, die ihr Leben im Einklang mit der Natur, den Traditionen und Geistern des Waldes führt und über ihre neunzig Lebensjahre reflektiert. In eindrucksvollen Bildern beschreibt Chi Zijian das tägliche Leben eines Volkes, das jahrzehntelang auf Rentierwirtschaft und nomadische Lebensweise gesetzt hat – und dabei zunehmend mit dem gesellschaftlichen und politischen Wandel in China konfrontiert wird. So lange, bis sich alles, was die Ewenken ausgemacht hat, veränderte – und beinahe nichts blieb. Dabei ist zu erwähnen, dass das Original dieses Romans bereits aus dem Jahr 2005 stammt, wie im Nachwort nachzulesen ist, in dem Chi Zijian sehr intensiv und hervorragend recherchiert zu ihren Beweggründen, diese Geschichte zu schreiben, erzählt. Wenn man nun zwanzig Jahre hinzurechnet, dürfte die nomadische Lebensweise völlig verschwunden sein – und die Bäume, der Wald im Ganzen, vermutlich ebenfalls. Sofern in der chinesischen Regierung, wie in so vielen anderen auf der Welt, kein Umdenken eingesetzt hat.

Die alte Frau, die absichtlich keinen Namen erhalten wird, nun beginnt ihre eigene Geschichte mit ihrer Geburt. Sie wird als dritte Tochter von Rinke und Tamara geboren, da ist die älteste Schwester schon gestorben. Ihr Onkel Nidu ist der Schamane der etwa fünfzehn Personen umfassenden Gemeinschaft, in der sich alles um die Rentiere dreht. Die Autorin hat es fabelhaft verstanden jeder einzelnen Figur Leben einzuhauchen. Nicht, dass es in so einer überschaubaren Personenanzahl friedlich und romantisch zuginge. Weit gefehlt. Passt ein Paar nicht zusammen, wird es den Frieden aller stören. Gefällt es dem Schwiegerelternteil nicht, wen Sohn oder Tochter heiraten, wird es Probleme geben. Zwischen all den Menschlichkeiten findet das harte Leben statt. Die Ewenken – nicht nur diese kleine Gruppe – wissen nicht viel von dem, was in der Welt geschieht. Sie erfahren es durch fahrende Händler, die sie mit Dingen versorgen, die ihnen die Natur nicht geben kann: Mehl, Gewürze, Haarspangen. Aber die Welt weiß von ihnen. Es ist die Zeit des Zweiten Weltkriegs, die Japaner dringen ins Gebiet der Ewenken ein. Die Männer sollen verpflichtet werden, sind oft monatelang fort und die Arbeit und die Jagd bleiben an den Frauen hängen. Die Erzählerin wächst auf, verliebt sich jung, heiratet. Sie sieht wie neue Mitglieder geboren werden und muss so manchen Schicksalsschlag einstecken. Sie heiratet ein zweites Mal, bekommt Kinder und Enkelkinder. Als diese in die eigens für sie gebauten Häuser ziehen, bleibt sie der alten Lebensweise verhaftet – kein Spoiler, denn damit beginnt das Buch.

Obwohl in dem gleichförmigen Gang des Lebens über Jahrzehnte zunächst nicht viel zu passieren scheint, schafft es Chi Zijian auf bemerkenswerte Weise Spannung zu erzeugen. Denn hinter den dichten Nebeln der Taiga lauern existenzielle Fragen: nach Zugehörigkeit, Glauben, Wandel, Tod und dem Preis der Assimilation in eine völlig andere Lebensweise. Sprachlich ist der Leser stets eng dabei, es ist gut zu lesen, einfach formuliert, auch wenn Bezeichnungen der Ewenken eingeflochten wurden.

Wer sich für indigene Völker Chinas, die literarische Verarbeitung von Identität oder einfach für umwerfende Literatur interessiert, wird mit diesem Buch eine Entdeckung machen. Schade, dass „Das letzte Viertel des Mondes“ so wenig Aufmerksamkeit bekommt. Das sollte sich unbedingt ändern!

 

 

Chi Zijian wurde 1964 in Chinas nördlichstem Dorf, Mohe, an der russisch-chinesischen Grenze geboren. Seit ihrem literarischen Debüt »Unter den Bäumen« 1983 hat sie mehr als vierzig Einzelwerke veröffentlicht und gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen Chinas. Ihr Werk wurde dreimal mit dem Lu Xun-Literaturpreis ausgezeichnet. 2008 erhielt sie u.a. für ihr Werk »Landschaft im See« mit dem Mao Dun-Preis die höchste Auszeichnung für Belletristik in China. 2004 erhielt sie das Suspence-Sentence Fellowship der australischen James Joyce-Foundation. Ihre Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, auf Deutsch ist dies die erste Übersetzung.

4 Kommentare:

  1. Guten Morgen! :)

    Du hast dieses Buch so schön in Szene gesetzt, es ist direkt auf meine Wunschliste gewandert!
    Ich habe noch nichts von den Ewenken gelesen und mich interessiert China ja geschichtlich sehr. Gerade über die Grenzregionen weiß ich noch nichts und es freut mich, dass solche Bücher dann doch mal übersetzt werden.

    Vielen Dank für den tollen Buchtipp und liebe Grüße!
    Andrea

    AntwortenLöschen
  2. Hallo Andrea,

    danke. Das freut mich, denn ich finde es schade, dass das Buch bisher so wenig Aufmerksamkeit bekommen hat. Es verdient mehr. Wünsche Dir schon einmal viel Spaß beim Lesen!

    LG
    Daniela

    AntwortenLöschen
  3. Liebe Daniela, ich kann Deiner professionellen Besprechung des Buches absolut zustimmen. Ich habe das Buch auch sehr genossen und es wird nicht in meinem Bücherschrank (ich lege gelesene und besprochene Rezensionsexemplare in meinen Bücherschrank zum Mitnehmen aus für Nachbarn, Freunde u.s.w.! Ist aber kein Tauschschrank) gelegt, sondern bekommt einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal.
    Herzliche Grüsse
    Angela

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ja, Du hast es auch gelesen, nicht? Schon gesehen :) Ich hoffe, dass noch viel, viel mehr Leser auf das Buch aufmerksam werden.
      Ich wünschte, so etwas gäbe es auch in meiner Gegend, aber hier tauschen auch oft die Nachbarn untereinander - ich gebe es meiner Mutter, die kennt auch viele Leser. Behalten werde ich es wohl auch. ;-)
      LG
      Daniela

      Löschen

Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!

Um die Übersicht über Kommentare zu behalten und Missbrauch zu verhindern, speichert diese Webseite Name, E-Mail, Kommentar, IP-Adresse und Zeitstempel Ihres Kommentars. Sie können Ihre Kommentare später jederzeit wieder löschen. Detaillierte Informationen finden Sie unter "Datenschutz" oben unter dem Header. Wer keine Datenübertragung wünscht, hat die Möglichkeit, einen anonymisierten Kommentar zu hinterlassen. Mit der Nutzung dieses Formulars erklären Sie sich mit der Speicherung und Verarbeitung Ihrer Daten durch diese Website einverstanden.