Samstag, 12. März 2022

(Gastfrage) Wie schafft man es als Lektorin, sich das Lesen nicht zu vermiesen?

 


Seit einiger Zeit werde ich von Viellesern angesprochen, die mit dem Gedanken spielen, sich als Lektor selbstständig zu machen. Diese Anfragen sind willkommen und ich gebe mir redlich Mühe, einen ersten Einblick zu geben. Eine Frage scheint die Gemüter am meisten zu bewegen: Kann man noch privat lesen und das möglichst ohne Rotstift oder vermiest man sich das Lesen durch den neuen Job?

Diese Frage ist tatsächlich nicht ganz so einfach und geradlinig zu beantworten. Dabei ist die Antwort so schwierig nicht, wenn sie vielleicht auch nicht jedem gefällt: Nicht jeder Leser sollte Lektor werden, aber jeder Lektor sollte lesen. Zu beachten ist, dass es verschiedene Arten des Lesens gibt, die zudem einer unterschiedlichen Herangehensweise an den jeweiligen Text bedürfen. Privates Freizeitlesen ist nicht gleichzusetzen mit Korrekturlesen oder einer aufmerksamen Analyse der Handlung. Zudem bearbeitet ein Lektor nicht unbedingt immer die Geschichten, die er auch privat für das eigene Vergnügen ausgewählt hätte. Oft sind es gar keine Geschichten, sondern wissenschaftliche Texte, Broschüren, Homepages, Pressetexte usw.

Das (nicht berufliche) Lesen in den bevorzugten Genres, in denen man tätig wird, ist auch eine Art Arbeit, denn es schadet nicht, sich weiterzubilden. Wie werden die einzelnen Geschichten aufgebaut, wie die Charaktere angelegt, wie lauten die Regeln der einzelnen Genres, wer hat gerade einen Bestseller verfasst und warum, wer sind angesagte Autoren in welchem Genre etc.; diese Dinge machen mit den Jahren eine Wandlung durch und Berufsleser sollten diese kennen. Gerne und viel lesen ist also eine Sache, mit Texten arbeiten eine ganz andere.

Kennen Sie Leser, denen anhand ihres großen Stapels ungelesener Bücher die Lust vergeht, weil sie vieles davon auch in kurzer Zeit lesen müssten? An dieses Gefühl sollte sich ein Lektor gewöhnen und es wird Zeiten geben, in denen außerhalb des Berufes gar nicht gelesen wird. Wer also schlicht aus einem Hobby einen Beruf machen will, sollte sich darüber klar werden, dass das einst geliebte Hobby unter Umständen bald nicht mehr sonderlich geliebt wird. Überhaupt ist es sehr wichtig, schon allein für die eigene Gesundheit, sich Freizeit neben dem Lesen zu schaffen, seien es Sport, Ausflüge, Handarbeiten oder -werk, Kochen oder was immer die Seele anspricht. Lesen wird Arbeit und die macht nicht immer Spaß. Wenn man es aber schafft, genügend Freiräume und Abstand zwischen sich und den Beruf(ung) zu schaffen, erhält man sich den Mut, das Vergnügen und den Elan am eigenen Schaffen – und der kleine Schalter im Kopf „Korrekturlesen vs. Privatlesen“ ist schnell umgelegt.

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Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!

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