Sonntag, 22. Dezember 2019

GARTENSTADT BEWEGUNG: Flugschriften, Essays, Vorträge und Zeichnungen aus dem Umkreis der Deutschen Gartenstadtgesellschaft


Titel: GARTENSTADTBEWEGUNG: Flugschriften, Essays, Vorträge und Zeichnungen aus dem Umkreis der Deutschen Gartenstadtgesellschaft
Autorin: verschied./ Tobias Roth (Hrsg.)
Originaltitel
Verlag: Verlag Das Kulturelle Gedächtnis
ISBN: 978-3946990352
Euro: 24,00
Veröffentlichungsdatum: September 2019
Seiten: 208
Serie: Keine
Come in: vom Verlag









Inhalt/Klappentext
Die Mieten explodieren, die Städte platzen aus den Nähten, die Schadstoffbelastung ist nicht mehr hinnehmbar, der Kontakt zur Natur ist verloren. Diesen Problemen begegnet bereits an der Schwelle des 19. zum 20. Jahrhundert die Gartenstadtbewegung: Die Vision einer neuen Art zu wohnen, die auf Gemeinschaftseigentum basiert und die Spekulation mit Grundstücken unmöglich macht – um allen Menschen würdigen Raum zu geben.
Garten und Paradies sind synonym: In den handfesten Ideen und anspruchsvollen Utopien der Gartenstadtbewegung zeigt sich, dass es nicht nur um Beschaulichkeit im Grünen geht, sondern um die Emanzipation des Einzelnen, um die nachhaltige Durchdringung von Natur und Gesellschaft, um Aufklärung und Bildung, und um eine Lebensart, die mit Kunst und Kultur genau so vertraut ist wie mit Ökologie und Landwirtschaft. Garten gewinnt sozialrevolutionäre Dimensionen. Aber es geht auch ganz entspannt um Freude am Basteln, um Entschleunigung und Geselligkeit. In diesem Band werden Flugschriften, Essays und Vorträge von den Akteuren und aus dem Umkreis der Deutschen Gartenstadtgesellschaft versammelt und erstmals seit der Erstveröffentlichung im Jahrzehnt zwischen 1903 und 1913 wieder zugänglich gemacht. Der Band ist, wie viele Publikationen der Gartenstadtbewegung, reich bebildert mit Architekturzeichnungen.


Meinung
„Große Literatur, kluge Gedanken, bedeutende Bücher sind zeitlos.“, schreibt der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis auf seiner Homepage. Und macht genau das. Der Verlag „hat sich zum Ziel gesetzt, notwendige Bücher der Literatur- und Kulturgeschichte neu zu verlegen – um schon gemachte Erfahrungen einzubringen, erreichte Standards des Denkens und Schreibens hochzuhalten. Wir müssen nicht einsam in der Geschichte und in der Gegenwart stehen.“
Mit der „Gartenstadtbewegung“ hat er ein beinahe unbekanntes, aber bis heute nachwirkendes Konzept aus der Feder der deutschen Anhänger wieder neu aufgelegt, die meisten Schriften in diesem Buch stammen von 1909 und 1911.
Aber was hat es mit der Idee auf sich?
Im Zuge der industriellen Revolution stieg der Bedarf an Arbeitskräften enorm an und zog eine große Anzahl an Arbeitern vom Land in die Städte ab. Dort hausten sie unter teils unwürdigen Bedingungen mit ihren Familien in Mietskasernen oder, wenn sie Pech hatten und das waren sehr viele, auf der Straße. Hygiene, Gesundheit, gesellschaftliches Leben gab es praktisch nicht. Dies betraf quasi alle westlichen Länder.
Der Engländer Ebenezer Howard entwickelte daraufhin das Konzept der Gartenstadt. Dabei stellte er sich grüne Siedlungen vor, die in Gemeinbesitz sein und deren Bewohner ein hohes Mitbestimmungsrecht erhalten sollten. Ein großer Teil der Siedlung war dem Acker- und Gartenbau zugedacht; Häusern für die Familien, Einkaufsmöglichkeiten und vielen sozialen und kulturellen Einrichtungen. Die Produktionsstätten, die für entsprechende Arbeitsmöglichkeiten sorgten, sollten nicht nur fußläufig erreichbar sein, sondern auch die teils weiten Strecken zwischen den Fabriken ersetzen. Oft wurden einzelne Ressourcen viele Kilometer weit zur nächsten Produktionsstätte transportiert, das sollte geändert werden.
Howard fand schnell viele Anhänger, auch in Deutschland. Die gesamte Geschichte und was wie und wo umgesetzt wurde, lässt sich im Wikipedia-Artikel „Gartenstadt“ genauestens nachlesen.
In dieser Ausgabe, herausgegeben von Tobias Roth, der auch ein sehr umfassendes Nachwort beigefügt hat, sind die wichtigsten deutschen Stimmen der Bewegung versammelt. Dabei sind Schriften wie Vorträge zusammengekommen, die das Konzept von allen Seiten beleuchtet, sei es die Umsetzung oder die Finanzierung, die Ausgestaltung des öffentlichen Lebens usw. Idee und auch Umsetzung sind dabei außer Frage gelungen und wünschenswert. Allerdings gab es eine kleine Sache, die mir nicht ganz behagte. Wenn über „die Arbeiterschaft“ quasi über deren Kopf hinweg geschrieben wird, statt mit ihr. Das Problem haben wir heute leider auch – es ist erschreckend, wie groß die Parallelen sind – und da fällt es nicht schwer, sich eine Gruppe Hipster vorzustellen, die Konzepte entwickeln, die aus ihrer eigenen Blase heraus erdacht sind. An dieser Stelle möchte ich auf das Buch „Armutssafari“ von Darren McGarvey verweisen. An seinen Texten ist abzulesen, wie aktuell auch die Gartenstadt ist und sein kann und nach meiner persönlichen Ansicht sogar dringend gebraucht würde.
Dem weiteren Vorhaben standen zwei große Kriege im Weg, nach denen die Idee leider nicht recht weiterverarbeitet wurde, auch wenn viele Einzelheiten ins Städtebaukonzept eingeflossen sind. Einfamilienhäuser sind in etwa auf die Bewegung zurückzuführen, auch wenn der „grüne Gedanke“ dabei keine große Rolle gespielt hat.
In Zeiten, wo bezahlbarer Wohnraum immer knapper wird, die Städte überfüllter, das Land dagegen veraltet und teils bereits jetzt leer steht, wir Millionen Obdachlose haben und mindestens ebenso viele neue Mitbürger, die ebenfalls irgendwo bleiben müssen – wir also an exakt dem gleichen Punkt stehen – ist es beinahe von unschätzbarem Wert, dass der Verlag eine alte Idee in die aktuelle Diskussion einbringt.
Die Lektüre ist indes nicht durchgängig einfach und erfordert ganze Konzentration. Ein wenig Vorbildung schadet nicht. Das Buch ist ein hochwertig und kunstvoll gestaltetes Hardcover, dessen Schrift in dunklem Grün gehalten ist, was Abendlesern unter Umständen nicht ganz gefallen wird.
„GARTENSTADTBEWEGUNG: Flugschriften, Essays, Vorträge und Zeichnungen aus dem Umkreis der Deutschen Gartenstadtgesellschaft“ umfasst einen wichtigen Teil unseres alltäglichen Lebens, enthält eine gehörige sozialwissenschaftliche Note und ist trotz historischer Debatte so aktuell wie nie.

 
Tobias Roth (*1985) lebt als Autor, Übersetzer und Herausgeber in seiner Heimatstadt München.


2 Kommentare:

  1. Interessant, von der "Gartenstadtbewegung“ habe ich vorher noch nie gehört. Klingt tatsächlich erstaunlich aktuell - traurig nur, dass die Idee anscheinend nie konkret weiterverfolgt wurde, auch wenn manche moderene Baukonzepte (wie z.B. die Seestadt in Wien) einige dieser Gedanken aufzugreifen scheinen.

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    1. Ich hatte zuvor auch noch nie in dieser Form davon gehört. Aber ich weiß jetzt, dass in Berlin etwas davon umgesetzt worden ist, wenn es wohl auch so vor sich hinverfällt. In Zeiten, wo uns neue Ansätze fehlen, wäre ein Blick auf alte Ideen vielleicht gar nicht so verkehrt. Ich würde es mir wünschen.

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Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!

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