Titel: GARTENSTADTBEWEGUNG:
Flugschriften, Essays, Vorträge und Zeichnungen aus dem Umkreis der Deutschen
Gartenstadtgesellschaft
Autorin: verschied./ Tobias
Roth (Hrsg.)
Originaltitel
Verlag: Verlag Das
Kulturelle Gedächtnis
ISBN: 978-3946990352
Euro: 24,00
Veröffentlichungsdatum: September
2019
Seiten: 208
Serie: Keine
Come in: vom Verlag
Inhalt/Klappentext
Die
Mieten explodieren, die Städte platzen aus den Nähten, die Schadstoffbelastung
ist nicht mehr hinnehmbar, der Kontakt zur Natur ist verloren. Diesen Problemen
begegnet bereits an der Schwelle des 19. zum 20. Jahrhundert die
Gartenstadtbewegung: Die Vision einer neuen Art zu wohnen, die auf
Gemeinschaftseigentum basiert und die Spekulation mit Grundstücken unmöglich
macht – um allen Menschen würdigen Raum zu geben.
Garten
und Paradies sind synonym: In den handfesten Ideen und anspruchsvollen Utopien
der Gartenstadtbewegung zeigt sich, dass es nicht nur um Beschaulichkeit im
Grünen geht, sondern um die Emanzipation des Einzelnen, um die nachhaltige
Durchdringung von Natur und Gesellschaft, um Aufklärung und Bildung, und um
eine Lebensart, die mit Kunst und Kultur genau so vertraut ist wie mit Ökologie
und Landwirtschaft. Garten gewinnt sozialrevolutionäre Dimensionen. Aber es
geht auch ganz entspannt um Freude am Basteln, um Entschleunigung und
Geselligkeit. In diesem Band werden Flugschriften, Essays und Vorträge von den
Akteuren und aus dem Umkreis der Deutschen Gartenstadtgesellschaft versammelt
und erstmals seit der Erstveröffentlichung im Jahrzehnt zwischen 1903 und 1913
wieder zugänglich gemacht. Der Band ist, wie viele Publikationen der
Gartenstadtbewegung, reich bebildert mit Architekturzeichnungen.
Meinung
„Große
Literatur, kluge Gedanken, bedeutende Bücher sind zeitlos.“, schreibt der
Verlag Das Kulturelle Gedächtnis auf
seiner Homepage. Und macht genau das. Der Verlag „hat sich zum Ziel gesetzt,
notwendige Bücher der Literatur- und Kulturgeschichte neu zu verlegen – um
schon gemachte Erfahrungen einzubringen, erreichte Standards des Denkens und
Schreibens hochzuhalten. Wir müssen nicht einsam in der Geschichte und in der
Gegenwart stehen.“
Mit
der „Gartenstadtbewegung“ hat er ein beinahe unbekanntes, aber bis heute
nachwirkendes Konzept aus der Feder der deutschen Anhänger wieder neu aufgelegt,
die meisten Schriften in diesem Buch stammen von 1909 und 1911.
Aber
was hat es mit der Idee auf sich?
Im
Zuge der industriellen Revolution stieg der Bedarf an Arbeitskräften enorm an
und zog eine große Anzahl an Arbeitern vom Land in die Städte ab. Dort hausten
sie unter teils unwürdigen Bedingungen mit ihren Familien in Mietskasernen
oder, wenn sie Pech hatten und das waren sehr viele, auf der Straße. Hygiene,
Gesundheit, gesellschaftliches Leben gab es praktisch nicht. Dies betraf quasi
alle westlichen Länder.
Der
Engländer Ebenezer Howard entwickelte daraufhin das Konzept der Gartenstadt.
Dabei stellte er sich grüne Siedlungen vor, die in Gemeinbesitz sein und deren
Bewohner ein hohes Mitbestimmungsrecht erhalten sollten. Ein großer Teil der
Siedlung war dem Acker- und Gartenbau zugedacht; Häusern für die Familien,
Einkaufsmöglichkeiten und vielen sozialen und kulturellen Einrichtungen. Die
Produktionsstätten, die für entsprechende Arbeitsmöglichkeiten sorgten, sollten
nicht nur fußläufig erreichbar sein, sondern auch die teils weiten Strecken
zwischen den Fabriken ersetzen. Oft wurden einzelne Ressourcen viele Kilometer
weit zur nächsten Produktionsstätte transportiert, das sollte geändert werden.
Howard
fand schnell viele Anhänger, auch in Deutschland. Die gesamte Geschichte und
was wie und wo umgesetzt wurde, lässt sich im Wikipedia-Artikel „Gartenstadt“
genauestens nachlesen.
In
dieser Ausgabe, herausgegeben von Tobias Roth, der auch ein sehr umfassendes
Nachwort beigefügt hat, sind die wichtigsten deutschen Stimmen der Bewegung
versammelt. Dabei sind Schriften wie Vorträge zusammengekommen, die das Konzept
von allen Seiten beleuchtet, sei es die Umsetzung oder die Finanzierung, die
Ausgestaltung des öffentlichen Lebens usw. Idee und auch Umsetzung sind dabei
außer Frage gelungen und wünschenswert. Allerdings gab es eine kleine Sache,
die mir nicht ganz behagte. Wenn über „die Arbeiterschaft“ quasi über deren
Kopf hinweg geschrieben wird, statt mit ihr. Das Problem haben wir heute leider
auch – es ist erschreckend, wie groß die Parallelen sind – und da fällt es
nicht schwer, sich eine Gruppe Hipster vorzustellen, die Konzepte entwickeln,
die aus ihrer eigenen Blase heraus erdacht sind. An dieser Stelle möchte ich
auf das Buch „Armutssafari“ von Darren McGarvey verweisen. An
seinen Texten ist abzulesen, wie aktuell auch die Gartenstadt ist und sein kann
und nach meiner persönlichen Ansicht sogar dringend gebraucht würde.
Dem
weiteren Vorhaben standen zwei große Kriege im Weg, nach denen die Idee leider
nicht recht weiterverarbeitet wurde, auch wenn viele Einzelheiten ins
Städtebaukonzept eingeflossen sind. Einfamilienhäuser sind in etwa auf die
Bewegung zurückzuführen, auch wenn der „grüne Gedanke“ dabei keine große Rolle
gespielt hat.
In
Zeiten, wo bezahlbarer Wohnraum immer knapper wird, die Städte überfüllter, das
Land dagegen veraltet und teils bereits jetzt leer steht, wir Millionen
Obdachlose haben und mindestens ebenso viele neue Mitbürger, die ebenfalls
irgendwo bleiben müssen – wir also an exakt dem gleichen Punkt stehen – ist es
beinahe von unschätzbarem Wert, dass der Verlag eine alte Idee in die aktuelle
Diskussion einbringt.
Die
Lektüre ist indes nicht durchgängig einfach und erfordert ganze Konzentration.
Ein wenig Vorbildung schadet nicht. Das Buch ist ein hochwertig und kunstvoll
gestaltetes Hardcover, dessen Schrift in dunklem Grün gehalten ist, was
Abendlesern unter Umständen nicht ganz gefallen wird.
„GARTENSTADTBEWEGUNG:
Flugschriften, Essays, Vorträge und Zeichnungen aus dem Umkreis der Deutschen
Gartenstadtgesellschaft“ umfasst einen wichtigen Teil unseres alltäglichen Lebens,
enthält eine gehörige sozialwissenschaftliche Note und ist trotz historischer
Debatte so aktuell wie nie.
Tobias Roth (*1985)
lebt als Autor, Übersetzer und Herausgeber in seiner Heimatstadt München.
Interessant, von der "Gartenstadtbewegung“ habe ich vorher noch nie gehört. Klingt tatsächlich erstaunlich aktuell - traurig nur, dass die Idee anscheinend nie konkret weiterverfolgt wurde, auch wenn manche moderene Baukonzepte (wie z.B. die Seestadt in Wien) einige dieser Gedanken aufzugreifen scheinen.
AntwortenLöschenIch hatte zuvor auch noch nie in dieser Form davon gehört. Aber ich weiß jetzt, dass in Berlin etwas davon umgesetzt worden ist, wenn es wohl auch so vor sich hinverfällt. In Zeiten, wo uns neue Ansätze fehlen, wäre ein Blick auf alte Ideen vielleicht gar nicht so verkehrt. Ich würde es mir wünschen.
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