Titel: Niemals ohne sie
Autorin: Jocelyne Saucier
Originaltitel: Les héritiers
de la mine
Verlag: Insel Verlag
ISBN: 978-3458178002
Euro: 20,00
Veröffentlichungsdatum: März
2019
Seiten: 255
Serie: nein
Come in: vorablesen.de
Inhalt
Kanada
in den Fünfziger und Sechziger Jahren. Matze oder Denis, wie er richtig heißt,
ist das jüngste von einundzwanzig Kindern, etwas schmächtiger als die anderen,
aber nicht weniger Cardinal. Ein Name, der im kleinen Ort, aus dem jeder, der
es sich leisten kann, fortzieht – obwohl er einst das Zentrum von allem war mit
einer funktionierenden Mine und mehreren Schulen, die zu füllen nur noch
gelingt, wenn die Landeier von außerhalb eingefahren werden – wohlbekannt ist.
Landeier sind die Cardinals aus eigener Sicht bestimmt nicht, sie sind mehr und
beweisen es im Erwachsenenleben durch viele wechselhafte Biografien. Matze nun
hat es nach vielen Jahren geschafft, die Geschwister alle anlässlich einer
Preisverleihung für den Vater an einen Ort zu bringen. Wirklich glücklich
darüber wirken aber die wenigsten. Nur warum?
Meinung
Ein
Buch, das äußerlich unheimlich schlicht wirkt und an dem ich beinahe
vorbeigegangen wäre, hätte ich nicht etwas Zeit überbrücken müssen, in der ich
die Leseprobe las. Ich war gleich Feuer und Flamme. Saucier hat eine
eigentümliche Art, den Leser sofort in den Bann zu ziehen und nicht mehr
loszulassen, was auch die Übersetzung fabelhaft wiedergegeben hat.
Matze
ist der Jüngste aus einer wahren Flut an Kindern, die in wirtschaftlich schweren
Zeiten in einem sehr vernachlässigten Ort leben müssen, sich allerdings eine
ganz eigene Wirklichkeit erschaffen. Sie geben sich selbst Namen von
Berühmtheiten wie Jeanne d’Arc oder Geronimo und halten zusammen wie Pech und
Schwefel. Dann findet der Vater, der Gesteinsproben in den Claims und Minen
untersucht, Zink in einer davon und seine Kinder sind davon überzeugt, man habe
ihn im Zuge dessen betrogen. Sie, die glaubten, gemeinsam gegen den Rest der
Welt zu stehen – und ein Stück weit oben drüber –, müssen sich etwas einfallen
lassen. Niemand soll sich je zwischen sie drängen. Aber was ist, wenn einer von
ihnen aus der Schar heraussticht? Einen eigenen, anderen Weg gehen möchte, aber
trotzdem dazugehören? Es dauert Jahre, bis das Familiengeheimnis sie nicht mehr
zerbricht und bis dahin erzählen verschiedene Geschwister je Kapitel in der
Ich-Form ihre Sicht der Ereignisse, die dazu führten, dass sich die Familie in
alle Winde zerstreute. Dabei hat die Autorin jedem auch eine eigene Stimme
gegeben. Es wirkt wie die verschiedenen Facetten eines Diamanten, die sich erst
zusammensetzen müssen, um zu genau einem solchen zu werden. Gegen Ende zieht es
sich leider ganz kurz ein wenig, wenn das, was der Leser kennt, zum vierten Mal
erzählt und nur eine Winzigkeit hinzugedichtet wird. Dann aber nimmt die
Handlung wieder Fahrt auf und entlässt in ein sehr emotionales, wenn auch nicht
ganz überraschendes Ende.
Eine
Familiengeschichte der anderen Art, die die Zeit und die Umgebung beinahe
lebensecht vor den Augen entstehen lassen. Und obwohl das Leben hart und
schlicht war – man schlief einfach in dem Bett, das gerade frei war, prügelte
sich um den Platz vor dem Fernseher oder um die guten Schuhe – haben es alle
Kinder geschafft, etwas aus sich zu machen. Nur die Trauer tragen sie mit sich
herum, davon überzeugt, die Lüge aufrechterhalten zu müssen, um die anderen,
vor allem die Mutter und Matze, zu beschützen. Das Buch ist keine Anklage,
erhebt keinen Zeigefinger, es erzählt eine spannende, emotionale und sehr gut
lesbare Geschichte, die in viel zu kurzer Zeit ausgelesen ist. „Niemals ohne
sie“ ist sicher nicht das letzte Buch, das ich von Jocelyne Saucier gelesen
haben werde.
Jocelyne Saucier, geboren
1948 in der Provinz New Brunswick, lebt heute in einem abgeschiedenen
Zehn-Seelen-Ort im nördlichen Québec. Sie arbeitete lange als Journalistin,
bevor sie mit dem literarischen Schreiben begann. Ihr vierter Roman Ein Leben
mehr, der 2015 bei Insel erschien, war ein Bestseller und wird derzeit
verfilmt.
Sali, Daniela.
AntwortenLöschenDas Szenario erinnert ein klein wenig an die Erzählelemente der Serie "The Waltons". Wenn ich auch annehme, daß die Autorin mehr an einer weniger nostalgischen Erzählperspektive interessiert ist.
bonté
Ha! Daran habe ich gar nicht gedacht. Die Waltons, nur nicht ganz so heile Welt und mit einem belastenden Geheimnis - ja, ich würde sagen, das passt. :)
LöschenHallo liebe Daniela!
AntwortenLöschenBei Dir entdecke ich immer neue Bücher und Autoren, die mir sonst wahrscheinlich nie über den Weg gelaufen wären. Deshalb mag ich Deinen Blog sehr!
Und das Kommentieren klappt auch problemlos (im Gegensatz zu meinem Blog .... grmpf).
LG Jessica
Hallo Jessica,
Löschendanke! :) Aber schön, dass wir das mit dem Kommentieren bei Dir ausloten konnten, hoffentlich klappt es dann jetzt auch weiterhin :)
LG Daniela
Das hat mich neugierig gemacht! Und ich bin tatsächlich durch Berlins momentane Gluthitze zu meinem Buchladen gelaufen ...
AntwortenLöschenAber Achtung Ich möchte deine Rezension um Stefanie Leos kleine Vorwarnung ergänzen: "21 Kinder zählt die Familie und die haben neben Taufnamen auch noch Spitznamen und so sah ich mich anfangs mit gefühlten 50 Charakteren konfrontiert."
Allerdings !
Man fühlt sich tatsächlich ein wenig wie bei Dostojewski: die Wirkung der großen psychologische Eindringlichkeit der Beschreibung seiner Protagonisten geht vor lauter Namen-Sortiererei anfangs glatt an einem vorbei.
Aber hat man die Figuren nach der ersten, etwas holprigen Strecke erst einmal lebendig vor Augen, gibt es kein Halten mehr. Den Rest kann man einfach nur genießen: Die Dichte der Zwischentöne, die Vielfalt der Perspektiven und Figuren, die Sogkraft von Sprache und Rhythmus.
An alle, die dieses großartige Buch noch vor sich haben: ich bin ein wenig neidisch.
Bianka
Hallo Bianka,
Löschenund willkommen im Blog!
heute ist es mal gegen Abend ein wenig abgekühlt, aber ja, Berlin ist glutheiß *seufz.
Ich habe das ehrlich gesagt nicht so empfunden. Zum einen kommen ja nicht alle Kinder persönlich zu Wort, sondern nur "die wichtigsten". Und natürlich ist es ein Buch, das mehr Sinne anspricht, als nur das Auge (heutzutage schaffen viele Schriftstücke leider tatsächlich nur das). Ich finde es immer ein bisschen schade, wenn Leser Derartiges bemängeln, weil es meist nicht unbedingt am Buch liegen muss ... Mich hat übrigens genau der Anfang so fasziniert, ich wäre nie auf die Idee gekommen, nach der Leseprobe aufzuhören. ;-)
Kennst Du schon "Befreit: Wie Bildung mir die Welt schloss" von Tara Westover? Das könnte Dir auch sehr gefallen. Oder "Alligatoren" von Deb Spera. Meg Wolitzer?
Danke für Deinen Besuch und das liebe Kommentar!
LG
Daniela