Titel: Die Gabe
Autorin: Naomi Alderman
Originaltitel: The Power
Verlag: Heyne
ISBN: 978-3453319110
Euro: 16,99
Veröffentlichungsdatum: Februar 2018
Seiten: 480
Kein Serientitel
Come in: Tausch
Naomi Alderman hat einen durchweg intelligenten und sehr durchdachten
Roman geschrieben, der zu Recht einen renommierten Preis gewonnen hat.
Dabei ist er aber sicher nicht einfach zu lesen, wer zu der Geschichte
greift, sollte belesen, politisch bewandert und ein wenig offen für
Frauenthemen und -geschichte sein. Und auch vor explizit gezeigter
Gewalt nicht zurückschrecken. Obwohl es mannigfaltig Vergleiche gibt und
"Die Gabe" als Mischung aus "Tribute von Panem" und Werken von Atwood
(der die Autorin ihr Werk gewidmet hat) bezeichnet wird, handelt es sich
nicht um eine der gängigen (Jugend-)Dystopien.
Die eigentliche
Geschichte ist in eine Rahmenhandlung gebettet, die irgendwann in sehr
ferner Zukunft spielt, als ein Mann einen Roman geschrieben hat, der
sich mit den Anfängen der Gabe bei Frauen befasst. Er schreibt dazu
Briefe an "Naomi", die ihn dazu beglückwünscht, sogar kämpfende
männliche Soldaten zu erwähnen. Abgerundet wird dieser Rahmen durch
zahlreiche Illustrationen, die archäologische Funde (fiktiver Natur)
zeigen und mit kurzen Texten belegen. Darum bezeichnet sich das Buch
auch selbst als "historischer Roman".
Die eigentliche Handlung wird
anhand von vier Charakteren erzählt, die für unterschiedliche
Sichtweisen auf das Gesamtbild sorgen. Am "Tag der Mädchen" geht es los,
als zahlreiche weibliche Teenager weltweit entdecken, dass sie
Stromstöße aus ihrem Händen schießen lassen können. Diese Gabe können
sie an andere Frauen weitergeben, was letztendlich alles verändern wird.
Tunde,
ein nigerianischer Reporter und einziger männlicher Charakter erkennt
schon früh die Brisanz und Bandbreite dessen was geschieht und widmet
fortan sein Leben und Wirken der Dokumentation der Geschehnisse
weltweit. Er besucht Indien genauso wie Saudi Arabien oder auch diverse
slawische Staaten, bis er im fiktiven Frauenstaat mit den anderen
Charakteren zusammenfindet. Aber nicht nur Frauen werden von ihm
interviewt, schnell bilden sich Gruppierungen von Männern, die gegen die
"Tyrannei" vorgehen wollen und das teilweise mit aller Macht.
Aldermans
Vision davon, dass alle Frauen nach so einem Ereignis zusammenhalten
und ihre eigene innere Stärke erkennen werden, kann ich so leider nicht
teilen. Es fehlen einfach die Gegenstimmen, denen zu wenig Beachtung
geschenkt wird, nicht einmal am Rande werden diese gezeigt. Alle Frauen
werfen die männlichen Bande ab und erfreuen sich ihrer neuen Freiheit.
Die
vierzehnjährige Roxy ist die uneheliche Tochter eines gefährlichen
Bandenbosses und versucht gerade, nicht nur allein klarzukommen, sondern
zudem die Mörder ihrer Mutter zu finden und zu bestrafen. Im Laufe der
Ereignisse ist sie eine der treibenden Kräfte bei der Schaffung und
Installierung des fiktiven Frauenstaates. Übrigens keine neue Idee;
bereits im frühen Mitelalter hat Christine de Pizan "Die Stadt der
Frauen" erdacht und niedergeschrieben (mit Unterstützung des Vaters und
gegen den Willen der Mutter). Später will Roxy die Geschäfte des Vaters
übernehmen; nachdem sie bereits bewiesen hat, dass sie den Grips und die
Willensstärke besitzt, wäre es ohne die Gabe dennoch unmöglich gewesen.
Roxys Strang ist von viel Gewalt geprägt, sie selbst schreckt davor
nicht zurück, aber sie gerät auch immer wieder in gefährliche
Situationen. Als ihr älterer Halbbruder von einigen Frauen vergewaltigt
wird, nimmt sie selbst die Bestrafung vor.
Allie ist ein junger
Teenager, der in verschiedenen Pflegefamilien aufgewachsen ist und in
diesen viel Gewalt und auch Missbrauch erlebt hat. Sie gelangt, nachdem
sich die Gabe bei ihr gezeigt hat, in ein Kloster, wo sie zu Gott findet
- einem weiblichen. Denn war Gott nicht immer eine Frau und haben wir
das nur vergessen? Allie erkennt ihre wahre Berufung und lässt sich
fortan "Mother Eve" nennen, wird zur mächtigsten treibenden Kraft, wird
schnell selbst wie eine Göttin verehrt. Sie bekehrt nicht nur, sondern
ruft zur strikten Kontrolle alles Männlichen auf, gründet den weiblichen
Staat.
Dieser Strang ist recht wesentlich für das Buch und das
Gedankenexperiment, welches Alderman vornimmt. Es wundert mich, dass er
so wenig Beachtung findet, denn in ihm steckt viel Brisanz. Ein
gequältes Mädchen, das aus ihren Erfahrungen schöpft und deswegen die
Welt unter ihre Kontrolle bringen will, denn Kontrolle bedeutet
Sicherheit. Richtig? Die Gewalt, die Allie erlebt hat, scheint auf den
ersten Blick immer von Männern ausgegangen zu sein, weswegen diese es
sind, die sanktioniert werden müssen. Nach Jahren der Etablierung dieses
Gedankens dürfen Männer nicht mehr allein das Haus verlassen, benötigen
die schriftliche Erlaubnis einer Frau, um einen Beruf auszuüben und
vieles mehr. Wer keine weiblichen Verwandten hat, hat Pech gehabt. In
Allies Strang keine Parallelen zu real existierenden religiösen
Propheten und/oder Praktiken zu ziehen, fällt verdammt schwer.
Und
schließlich ist da noch Margot, Politikerin und Mutter zweier Töchter.
Sie muss ihre eigene Gabe verstecken, da sie sonst Gefahr liefe, ihren
Job zu verlieren, da die meisten Politiker männlich sind und sich von
den Ereignissen überrollt und bedroht fühlen. Ihre ältere Tochter
Jocelyn besitzt die Gabe ebenfalls, die von einem Strang, der unterhalb
der Schulter sitzt, ausgeht. Doch sie hat arge Probleme, die Fähigkeit
unter Kontrolle zu bekommen, was sie zu einer Außenseiterin unter den
Frauen macht und ihr nur dank der Beziehungen der Mutter zu Ansehen
verhilft.
Einer ihrer männlichen Jugendfreunde bildet aufgrund einer
genetischen Anomalie ebenfalls einen Strang aus - hier wird mit
Geschlechtern und deren "Zugehörigkeiten" gespielt, was interessante
Gedankengänge zulässt.
Die Handlung geschieht in zehn Jahren, in
denen sie sich immer mehr zuspitzt, bis es einen großen Knall gibt und
die Welt ihr Antlitz komplett verändert. Die zahlreichen Anspielungen an
unsere Welt können gar nicht alle angemessen aufgezählt werden, sorgen
aber dafür, dass Aldermans Werk lange im Leser nachhallt. Alles auf den
ersten Blick zu erkennen gelingt nicht, es erfordert ein erneutes und
wieder erneutes Lesen und immer wird es neue Blickwinkel geben.
In
"Die Gabe" sind Frauen keine netten, freundlichen Geschöpfe; sie sind
Menschen. Und nach vielen Jahrhunderten, in denen Frauen gequält und
gefoltert wurden, bricht sich ihr Sinn nach Rache Bahn, so gewaltig,
dass die vernünftigen Stimmen darin untergehen.
Alderman nutzt für
ihre Erzählung alle Mittel, die ihr als Autorin zur Verfügung stehen und
es ist bestechend, wie nah sie damit der Wirklichkeit kommt. Nicht
zuletzt wenn sich Gruppierungen im www zusammenfinden und ihren
"Verschwörungstheorien" nachgehen; die Kommentare scheinen der Realität
entnommen.
Es geht immer sehr direkt zu, es wird nichts verschwiegen
und nichts beschönigt. Zarte Gemüter sollten nicht zugreifen. Aber
Alderman schreibt sich mit diesem (Geschlechter-)Spiegel in alle
Bereiche ein: die privaten, politischen, religiösen ... und legt den
Finger in die Wunden. Dabei geht es ihr nicht darum, Männer zu
verunglimpfen und Frauen auch nicht. Sie hat die wesentlichsten Probleme
dieser Tage gefunden und literarisch umgekehrt. Und manches, so fürchte
ich, wird einem erst dadurch so richtig bewusst.
Auch wenn das Buch
seine Längen hat und nicht jeder Leser mit allem konform gehen wird, hat
es Naomi Alderman geschafft, Themen in den Mittelpunkt zu rücken, an
denen sonst achtlos vorbeigegangen wird. Diese aufzuzeigen und zur
Diskussion zu stellen ist eine beachtliche Leistung.
Ein forderndes Buch und das in jeder Hinsicht!
Naomi
Alderman ist in London aufgewachsen und studierte in Oxford und an der
University of East Anglia. Sie stellt bei BBC Radio 4 „Science Stories“
vor und ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Bath Spa
Universität. Als Autorin wurde sie bereits mehrfach mit Preisen für
junge Autoren ausgezeichnet. Für Die Gabe wurde ihr der renommierten
Baileys Women's Prize for Fiction verliehen. Naomi Alderman lebt in
London.
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Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!
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