Dienstag, 10. Juli 2018

Die Gabe - Naomi Alderman

Titel: Die Gabe
Autorin: Naomi Alderman
Originaltitel: The Power
Verlag: Heyne
ISBN: 978-3453319110
Euro: 16,99
Veröffentlichungsdatum: Februar 2018
Seiten: 480
Kein Serientitel
Come in: Tausch









Naomi Alderman hat einen durchweg intelligenten und sehr durchdachten Roman geschrieben, der zu Recht einen renommierten Preis gewonnen hat. Dabei ist er aber sicher nicht einfach zu lesen, wer zu der Geschichte greift, sollte belesen, politisch bewandert und ein wenig offen für Frauenthemen und -geschichte sein. Und auch vor explizit gezeigter Gewalt nicht zurückschrecken. Obwohl es mannigfaltig Vergleiche gibt und "Die Gabe" als Mischung aus "Tribute von Panem" und Werken von Atwood (der die Autorin ihr Werk gewidmet hat) bezeichnet wird, handelt es sich nicht um eine der gängigen (Jugend-)Dystopien.
Die eigentliche Geschichte ist in eine Rahmenhandlung gebettet, die irgendwann in sehr ferner Zukunft spielt, als ein Mann einen Roman geschrieben hat, der sich mit den Anfängen der Gabe bei Frauen befasst. Er schreibt dazu Briefe an "Naomi", die ihn dazu beglückwünscht, sogar kämpfende männliche Soldaten zu erwähnen. Abgerundet wird dieser Rahmen durch zahlreiche Illustrationen, die archäologische Funde (fiktiver Natur) zeigen und mit kurzen Texten belegen. Darum bezeichnet sich das Buch auch selbst als "historischer Roman".
Die eigentliche Handlung wird anhand von vier Charakteren erzählt, die für unterschiedliche Sichtweisen auf das Gesamtbild sorgen. Am "Tag der Mädchen" geht es los, als zahlreiche weibliche Teenager weltweit entdecken, dass sie Stromstöße aus ihrem Händen schießen lassen können. Diese Gabe können sie an andere Frauen weitergeben, was letztendlich alles verändern wird.
Tunde, ein nigerianischer Reporter und einziger männlicher Charakter erkennt schon früh die Brisanz und Bandbreite dessen was geschieht und widmet fortan sein Leben und Wirken der Dokumentation der Geschehnisse weltweit. Er besucht Indien genauso wie Saudi Arabien oder auch diverse slawische Staaten, bis er im fiktiven Frauenstaat mit den anderen Charakteren zusammenfindet. Aber nicht nur Frauen werden von ihm interviewt, schnell bilden sich Gruppierungen von Männern, die gegen die "Tyrannei" vorgehen wollen und das teilweise mit aller Macht.
Aldermans Vision davon, dass alle Frauen nach so einem Ereignis zusammenhalten und ihre eigene innere Stärke erkennen werden, kann ich so leider nicht teilen. Es fehlen einfach die Gegenstimmen, denen zu wenig Beachtung geschenkt wird, nicht einmal am Rande werden diese gezeigt. Alle Frauen werfen die männlichen Bande ab und erfreuen sich ihrer neuen Freiheit.

Die vierzehnjährige Roxy ist die uneheliche Tochter eines gefährlichen Bandenbosses und versucht gerade, nicht nur allein klarzukommen, sondern zudem die Mörder ihrer Mutter zu finden und zu bestrafen. Im Laufe der Ereignisse ist sie eine der treibenden Kräfte bei der Schaffung und Installierung des fiktiven Frauenstaates. Übrigens keine neue Idee; bereits im frühen Mitelalter hat Christine de Pizan "Die Stadt der Frauen" erdacht und niedergeschrieben (mit Unterstützung des Vaters und gegen den Willen der Mutter). Später will Roxy die Geschäfte des Vaters übernehmen; nachdem sie bereits bewiesen hat, dass sie den Grips und die Willensstärke besitzt, wäre es ohne die Gabe dennoch unmöglich gewesen. Roxys Strang ist von viel Gewalt geprägt, sie selbst schreckt davor nicht zurück, aber sie gerät auch immer wieder in gefährliche Situationen. Als ihr älterer Halbbruder von einigen Frauen vergewaltigt wird, nimmt sie selbst die Bestrafung vor.
Allie ist ein junger Teenager, der in verschiedenen Pflegefamilien aufgewachsen ist und in diesen viel Gewalt und auch Missbrauch erlebt hat. Sie gelangt, nachdem sich die Gabe bei ihr gezeigt hat, in ein Kloster, wo sie zu Gott findet - einem weiblichen. Denn war Gott nicht immer eine Frau und haben wir das nur vergessen? Allie erkennt ihre wahre Berufung und lässt sich fortan "Mother Eve" nennen, wird zur mächtigsten treibenden Kraft, wird schnell selbst wie eine Göttin verehrt. Sie bekehrt nicht nur, sondern ruft zur strikten Kontrolle alles Männlichen auf, gründet den weiblichen Staat.
Dieser Strang ist recht wesentlich für das Buch und das Gedankenexperiment, welches Alderman vornimmt. Es wundert mich, dass er so wenig Beachtung findet, denn in ihm steckt viel Brisanz. Ein gequältes Mädchen, das aus ihren Erfahrungen schöpft und deswegen die Welt unter ihre Kontrolle bringen will, denn Kontrolle bedeutet Sicherheit. Richtig? Die Gewalt, die Allie erlebt hat, scheint auf den ersten Blick immer von Männern ausgegangen zu sein, weswegen diese es sind, die sanktioniert werden müssen. Nach Jahren der Etablierung dieses Gedankens dürfen Männer nicht mehr allein das Haus verlassen, benötigen die schriftliche Erlaubnis einer Frau, um einen Beruf auszuüben und vieles mehr. Wer keine weiblichen Verwandten hat, hat Pech gehabt. In Allies Strang keine Parallelen zu real existierenden religiösen Propheten und/oder Praktiken zu ziehen, fällt verdammt schwer.
Und schließlich ist da noch Margot, Politikerin und Mutter zweier Töchter. Sie muss ihre eigene Gabe verstecken, da sie sonst Gefahr liefe, ihren Job zu verlieren, da die meisten Politiker männlich sind und sich von den Ereignissen überrollt und bedroht fühlen. Ihre ältere Tochter Jocelyn besitzt die Gabe ebenfalls, die von einem Strang, der unterhalb der Schulter sitzt, ausgeht. Doch sie hat arge Probleme, die Fähigkeit unter Kontrolle zu bekommen, was sie zu einer Außenseiterin unter den Frauen macht und ihr nur dank der Beziehungen der Mutter zu Ansehen verhilft.
Einer ihrer männlichen Jugendfreunde bildet aufgrund einer genetischen Anomalie ebenfalls einen Strang aus - hier wird mit Geschlechtern und deren "Zugehörigkeiten" gespielt, was interessante Gedankengänge zulässt.
Die Handlung geschieht in zehn Jahren, in denen sie sich immer mehr zuspitzt, bis es einen großen Knall gibt und die Welt ihr Antlitz komplett verändert. Die zahlreichen Anspielungen an unsere Welt können gar nicht alle angemessen aufgezählt werden, sorgen aber dafür, dass Aldermans Werk lange im Leser nachhallt. Alles auf den ersten Blick zu erkennen gelingt nicht, es erfordert ein erneutes und wieder erneutes Lesen und immer wird es neue Blickwinkel geben.
In "Die Gabe" sind Frauen keine netten, freundlichen Geschöpfe; sie sind Menschen. Und nach vielen Jahrhunderten, in denen Frauen gequält und gefoltert wurden, bricht sich ihr Sinn nach Rache Bahn, so gewaltig, dass die vernünftigen Stimmen darin untergehen.
Alderman nutzt für ihre Erzählung alle Mittel, die ihr als Autorin zur Verfügung stehen und es ist bestechend, wie nah sie damit der Wirklichkeit kommt. Nicht zuletzt wenn sich Gruppierungen im www zusammenfinden und ihren "Verschwörungstheorien" nachgehen; die Kommentare scheinen der Realität entnommen.
Es geht immer sehr direkt zu, es wird nichts verschwiegen und nichts beschönigt. Zarte Gemüter sollten nicht zugreifen. Aber Alderman schreibt sich mit diesem (Geschlechter-)Spiegel in alle Bereiche ein: die privaten, politischen, religiösen ... und legt den Finger in die Wunden. Dabei geht es ihr nicht darum, Männer zu verunglimpfen und Frauen auch nicht. Sie hat die wesentlichsten Probleme dieser Tage gefunden und literarisch umgekehrt. Und manches, so fürchte ich, wird einem erst dadurch so richtig bewusst.
Auch wenn das Buch seine Längen hat und nicht jeder Leser mit allem konform gehen wird, hat es Naomi Alderman geschafft, Themen in den Mittelpunkt zu rücken, an denen sonst achtlos vorbeigegangen wird. Diese aufzuzeigen und zur Diskussion zu stellen ist eine beachtliche Leistung.
Ein forderndes Buch und das in jeder Hinsicht!


Naomi Alderman ist in London aufgewachsen und studierte in Oxford und an der University of East Anglia. Sie stellt bei BBC Radio 4 „Science Stories“ vor und ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Bath Spa Universität. Als Autorin wurde sie bereits mehrfach mit Preisen für junge Autoren ausgezeichnet. Für Die Gabe wurde ihr der renommierten Baileys Women's Prize for Fiction verliehen. Naomi Alderman lebt in London.

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Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!

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