Samstag, 5. Mai 2018

Die letzte Reise der Meerjungfrau - Imogen Hermes Gowar

Titel: Die letzte Reise der Meerjungfrau: oder wie Jonah Hancock über Nacht zum reichen Mann wurde
Autorin: Imogen Hermes Gowar
Originaltitel: The Mermaid and Mrs. Hancock
Verlag: Lübbe Ehrenwirth
ISBN: 978-3431040821
Euro: 20,00
Veröffentlichungsdatum: März 2018
Seiten: 560
Kein Serientitel
Come in: Vom Verlag








Inhalt

Der verwitwete Kaufmann Jonah Hancock erwartet im Jahr 1785 sein Handelsschiff nach zwei Jahren zurück. Doch statt reicher Handelsgüter kehrt sein Kapitän ohne Schiff und Mannschaft in London ein, stattdessen mit einer Kuriosität: einer Meerjungfrau. Das leblose Geschöpf wirkt gar grotesk und Hancock ist entsetzt. Doch dann empfiehlt man ihm, das Wesen in den Kaffeehäusern des Landes auszustellen und Eintritt zu verlangen. Der Plan geht auf, bis Mrs. Chapell, Betreiberin eines angesehenen Bordells, mit ihm über die Ausstellung in ihrem Haus verhandelt, um mehr - und hochrangigere - Kunden anzulocken. Über das Treiben dort entsetzt, verkauft Hancock die Kuriosität zu einem hohen Preis.
Doch durch Chapell hat der Witwer deren einstigen Zögling Angelica Neal kennengelernt und sich in die Freischaffende verliebt. Diese aber verlangt für ihre Gunst ein hohes Gut: eine eigene Meerjungfrau. Hancock lässt die bis dato bekannte Welt danach absuchen und wird fündig. Der Preis dafür ist hoch.


Meinung

Die Debütautorin hat es mit ihrem Roman auf die Shortlist des "The Women's Prize for Fiction" geschafft.
Im Interview erklärt Gowar zwei Dinge, die mich zum Lesen bewogen haben. Zum einen ist die studierte Archäologin und Anthropologin auf die Idee mit der Meerjungfrau gekommen, weil es im Britischen Museum eine solche aus dem 18. Jahrhundert gibt, die aus einem Affenfell genäht worden ist, aber dennoch von vielen damaligen Zeitgenossen für echt gehalten wurde. Zum anderen war die Autorin von den Frauen des Georgianischen Zeitaltes fasziniert: "Sie besaßen erheblich weniger Chancen, als moderne Frauen sie haben, aber sie waren trotzdem intelligent, tapfer und mutig – und bekamen ihre Sachen geregelt.", schreibt sie dazu im Interview. Nicht zuletzt stecken zehn Monate reine Recherche in dem Buch, was ihm auch anzumerken ist. Die vielen genauen und sehr liebevoll bemerkten und exakt dargestellten Details verleihen dem Roman seinen ganzen Charme.
Ebenfalls ist die Aufmachung des Buches hervorzuheben. Nicht nur sind Umschlag und Innenleben hochwertig gestaltet worden, es gibt auch eine "Anmerkung zur Schrift". Gemeint ist "Caslon" nach dem gleichnamigen Schöpfer derselben, der näher vorgestellt wird. Einen zweiten Blick wert ist er allemal, denn die Schrift (Schrift!) hat viel verändert.

Die Geschichte nun wirkt zunächst recht unspektakulär. Es wird niemand erschossen, es gibt keine Kriege und die Meerjungfrau ist (nicht schwer zu erraten) eine groteske Fälschung. Gowan gelingt es jedoch hervorragend, ein Bild der damaligen Gesellschaft zu zeichnen, von dem man kaum den Blick abwenden kann. "Fakt ist, dass man noch vor wenigen Jahrzehnten der Ansicht war, es sei unmöglich, eine komplette „Geschichte der Frauen“ zu erstellen. Ihr Alltag war nicht dokumentiert, ihre Meinungen kannte man nicht. Moderne Historiker sind Archiven jedoch mit erstaunlichem Erfindergeist zu Leibe gerückt. Sie haben besonders historische Quellen untersucht, die man bis dato übersehen, von der Hand gewiesen oder missverstanden hatte und stellten fest, dass es möglich ist, sehr, sehr viele Details aus dem Leben durchschnittlicher Frauen zu rekonstruieren.", schreibt die Autorin dazu im Interview. Dabei bleibt ihr Blick an den Frauen und Mädchen hängen, die, oft aus ärmstlichen Verhältnissen stammend, mehr oder minder freiwillig als Prostituierte arbeiteten. Dabei richtet sie ihr Augenmerk vor allem auf Angelica, die einst im Bordell begann, schließlich jedoch einen Gönner fand, der sie aushielt. Selbstredend mit allen anwaltlich abgesegneten Verträgen, die es dazu benötigte. Leider verstirbt dieser ältere Herr dann, ohne sie in seinem Testament bedacht zu haben - ein wahrer Unglücksfall, denn es gibt zahlreiche offene Rechnungen. Auch ihre Freundin/Hausdame kann ihr wenig behilflich sein, also muss alles verkauft werden, was einen Wert besitzt, ehe sich die missliche Lage herumspricht. Just zu diesem Zeitpunkt taucht Mrs. Chapell bei Angelica auf und möchte sie wieder zu sich ins Bordell lotsen, denn mit den drei jungen Mächen, die sie zu "Huren von Welt" machen möchte, ist sie unzufrieden. Eine davon übrigens schwarz, wie viele ihrer Zeit keine Sklavin, aber dennoch mit zusätzlichen Einschränkungen im Leben versehen.
Das gesellschaftliche Leben der Männer fand größtenteils in den Bordellen - den besseren - der Stadt statt, dort wurde gespielt, geraucht und sich den Damen zugewandt. Manche ältere historische Werke behaupten gar, dass dort Politik gemacht wurde und das nicht nur von Männern. Nicht selten stieg auch eine Kurtisane zu einer Ehefrau eines hochrangigen Botschafters auf, es ist sicher nicht vermessen zu glauben, dass solche Frauen auf viele Dinge Einfluss genommen haben.
In Hancocks Haushalt lebt nur er allein, denn Frau und Kind sind bei der Geburt vor Jahren verstorben und er hat sich draufhin sehr zurückgezogen. Nur seine Nichte Suki hellt seinen eher grauen Alltag etwas auf. Gowar erzählt nur wenig zu verheirateten Frauen oder solchen, die jemanden hatten, der sich um sie kümmerte. Für Jonah Hancock nun ändert sich alles, als sein Kapitän mit der Meerjungfrau bei ihm auftaucht und er sich auf das Austellungsverfahren einlässt. Seine Nichte nimmt die Details in die Hand und verfügt auch über die Geldkassette - nicht verwunderlich, hofft sie doch so, an eine bessere Mitgift zu kommen. Doch Hancock wird das schnell zu viel, weshalb er gern auf Chapells Angebot eingeht. In deren Hause trifft er auf Angelica, der jedoch das eine passiert ist, das niemals einer Hure widerfahren darf: sie hat ihr Herz vergeben. Hochmütig verlacht sie später Hancock und verlangt eine eigene Meerjungfrau.
Was ich zugegeben nicht erwartet hätte, ist die Detailgetreue auch im Bordell selbst, nicht was Alltag und Setting betrifft, sondern der genauestens geschilderte Beischlaf, der ab einer gewissen Stelle ruhig hätte abgebrochen werden können. Dass Hancock davon angewidert war, ist nur allzu verständlich. Er lässt alles los, das Bordell und die Meerjungfrau, für die er einen so gewaltigen Preis verlangt, dass er nicht geglaubt hätte, dass jemand diesen bezahlt. Er irrt sich.
Noch einmal hervorzuheben ist die hervorragende Recherche der Autorin, die so allumfassend ist, dass sich dieses wirklich lesenswerte Werk ergibt. Im letzten Drittel dann wird es leider etwas undurchsichtig und konfus und ich muss gestehen, dass ich das eigentliche Ende nicht verstanden habe. Hier hätte ich mir erhofft, eine Art Pointe zu finden, wenigstens ein Seufzen beim Zuklappen des Buchdeckels oder wenigstens eine neue Idee. Leider hat sich Gowar hier ein bisschen in ihrem eigenen Anliegen verloren, das Leben der Frauen (und die zahlreichen Details, die noch nicht aufgegriffen waren) über die eigentliche Geschichte gestellt und damit auch über alle anderen Figuren. Ein wirkliches Happy End kann sich so natürlich leider auch nicht ergeben. Die Autorin entlässt ihre Leser rätselbehaftet und leider auch ein bisschen unzufrieden.
Insgesamt hat sich eine bunte Mischung ergeben, die vielleicht auch in mehrere Romane gepasst hätte, die aber für ein sehr illustres Bild sorgen - und für den ein oder anderen neuen Aspekt bei der Betrachtung des Lebens im London des 18. Jahrhunderts.



Imogen Hermes Gowar lebt in London. Sie hat Archäologie, Anthropologie und Kunstgeschichte studiert und anschließend in verschiedenen Museen gearbeitet. Die Ausstellungsstücke haben sie zu ihren ersten fiktionalen Texten inspiriert. Ihr Debütroman Die letzte Reise der Meerjungfrau ist aus ihrer Dissertation im Fach Kreatives Schreiben hervorgegangen und wurde mit dem Curtis-Brown-Preis ausgezeichnet.

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Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!

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