Titel: Die letzte Reise der Meerjungfrau: oder wie Jonah Hancock über Nacht zum reichen Mann wurde
Autorin: Imogen Hermes Gowar
Originaltitel: The Mermaid and Mrs. Hancock
Verlag: Lübbe Ehrenwirth
ISBN: 978-3431040821
Euro: 20,00
Veröffentlichungsdatum: März 2018
Seiten: 560
Kein Serientitel
Come in: Vom Verlag
Inhalt
Der
verwitwete Kaufmann Jonah Hancock erwartet im Jahr 1785 sein
Handelsschiff nach zwei Jahren zurück. Doch statt reicher Handelsgüter
kehrt sein Kapitän ohne Schiff und Mannschaft in London ein, stattdessen
mit einer Kuriosität: einer Meerjungfrau. Das leblose Geschöpf wirkt
gar grotesk und Hancock ist entsetzt. Doch dann empfiehlt man ihm, das
Wesen in den Kaffeehäusern des Landes auszustellen und Eintritt zu
verlangen. Der Plan geht auf, bis Mrs. Chapell, Betreiberin eines
angesehenen Bordells, mit ihm über die Ausstellung in ihrem Haus
verhandelt, um mehr - und hochrangigere - Kunden anzulocken. Über das
Treiben dort entsetzt, verkauft Hancock die Kuriosität zu einem hohen
Preis.
Doch durch Chapell hat der Witwer deren einstigen Zögling Angelica Neal kennengelernt und sich in die Freischaffende verliebt. Diese aber verlangt für ihre Gunst ein hohes Gut: eine eigene Meerjungfrau. Hancock lässt die bis dato bekannte Welt danach absuchen und wird fündig. Der Preis dafür ist hoch.
Doch durch Chapell hat der Witwer deren einstigen Zögling Angelica Neal kennengelernt und sich in die Freischaffende verliebt. Diese aber verlangt für ihre Gunst ein hohes Gut: eine eigene Meerjungfrau. Hancock lässt die bis dato bekannte Welt danach absuchen und wird fündig. Der Preis dafür ist hoch.
Die Debütautorin hat es mit ihrem Roman auf die Shortlist des "The Women's Prize for Fiction" geschafft.
Im Interview erklärt Gowar zwei Dinge, die mich zum Lesen bewogen haben. Zum einen ist die
studierte Archäologin und Anthropologin auf die Idee mit der
Meerjungfrau gekommen, weil es im Britischen Museum eine solche aus dem
18. Jahrhundert gibt, die aus einem Affenfell genäht worden ist, aber
dennoch von vielen damaligen Zeitgenossen für echt gehalten wurde. Zum
anderen war die Autorin von den Frauen des Georgianischen Zeitaltes
fasziniert: "Sie besaßen erheblich weniger Chancen, als moderne Frauen
sie haben, aber sie waren trotzdem intelligent, tapfer und mutig – und
bekamen ihre Sachen geregelt.", schreibt sie dazu im Interview. Nicht
zuletzt stecken zehn Monate reine Recherche in dem Buch, was ihm auch
anzumerken ist. Die vielen genauen und sehr liebevoll bemerkten und
exakt dargestellten Details verleihen dem Roman seinen ganzen Charme.
Ebenfalls
ist die Aufmachung des Buches hervorzuheben. Nicht nur sind Umschlag
und Innenleben hochwertig gestaltet worden, es gibt auch eine "Anmerkung
zur Schrift". Gemeint ist "Caslon" nach dem gleichnamigen Schöpfer
derselben, der näher vorgestellt wird. Einen zweiten Blick wert ist er
allemal, denn die Schrift (Schrift!) hat viel verändert.
Die
Geschichte nun wirkt zunächst recht unspektakulär. Es wird niemand
erschossen, es gibt keine Kriege und die Meerjungfrau ist (nicht schwer
zu erraten) eine groteske Fälschung. Gowan gelingt es jedoch
hervorragend, ein Bild der damaligen Gesellschaft zu zeichnen, von dem
man kaum den Blick abwenden kann. "Fakt ist, dass man noch vor wenigen
Jahrzehnten der Ansicht war, es sei unmöglich, eine komplette
„Geschichte der Frauen“ zu erstellen. Ihr Alltag war nicht dokumentiert,
ihre Meinungen kannte man nicht. Moderne Historiker sind Archiven
jedoch mit erstaunlichem Erfindergeist zu Leibe gerückt. Sie haben
besonders historische Quellen untersucht, die man bis dato übersehen,
von der Hand gewiesen oder missverstanden hatte und stellten fest, dass
es möglich ist, sehr, sehr viele Details aus dem Leben
durchschnittlicher Frauen zu rekonstruieren.", schreibt die Autorin dazu
im Interview. Dabei bleibt ihr Blick an den Frauen und Mädchen hängen,
die, oft aus ärmstlichen Verhältnissen stammend, mehr oder minder
freiwillig als Prostituierte arbeiteten. Dabei richtet sie ihr Augenmerk
vor allem auf Angelica, die einst im Bordell begann, schließlich jedoch
einen Gönner fand, der sie aushielt. Selbstredend mit allen anwaltlich
abgesegneten Verträgen, die es dazu benötigte. Leider verstirbt dieser
ältere Herr dann, ohne sie in seinem Testament bedacht zu haben - ein
wahrer Unglücksfall, denn es gibt zahlreiche offene Rechnungen. Auch
ihre Freundin/Hausdame kann ihr wenig behilflich sein, also muss alles
verkauft werden, was einen Wert besitzt, ehe sich die missliche Lage
herumspricht. Just zu diesem Zeitpunkt taucht Mrs. Chapell bei Angelica
auf und möchte sie wieder zu sich ins Bordell lotsen, denn mit den drei
jungen Mächen, die sie zu "Huren von Welt" machen möchte, ist sie
unzufrieden. Eine davon übrigens schwarz, wie viele ihrer Zeit keine
Sklavin, aber dennoch mit zusätzlichen Einschränkungen im Leben
versehen.
Das gesellschaftliche Leben der Männer fand größtenteils in
den Bordellen - den besseren - der Stadt statt, dort wurde gespielt,
geraucht und sich den Damen zugewandt. Manche ältere historische Werke
behaupten gar, dass dort Politik gemacht wurde und das nicht nur von
Männern. Nicht selten stieg auch eine Kurtisane zu einer Ehefrau eines
hochrangigen Botschafters auf, es ist sicher nicht vermessen zu glauben,
dass solche Frauen auf viele Dinge Einfluss genommen haben.
In
Hancocks Haushalt lebt nur er allein, denn Frau und Kind sind bei der
Geburt vor Jahren verstorben und er hat sich draufhin sehr
zurückgezogen. Nur seine Nichte Suki hellt seinen eher grauen Alltag
etwas auf. Gowar erzählt nur wenig zu verheirateten Frauen oder solchen,
die jemanden hatten, der sich um sie kümmerte. Für Jonah Hancock nun
ändert sich alles, als sein Kapitän mit der Meerjungfrau bei ihm
auftaucht und er sich auf das Austellungsverfahren einlässt. Seine
Nichte nimmt die Details in die Hand und verfügt auch über die
Geldkassette - nicht verwunderlich, hofft sie doch so, an eine bessere
Mitgift zu kommen. Doch Hancock wird das schnell zu viel, weshalb er
gern auf Chapells Angebot eingeht. In deren Hause trifft er auf
Angelica, der jedoch das eine passiert ist, das niemals einer Hure
widerfahren darf: sie hat ihr Herz vergeben. Hochmütig verlacht sie
später Hancock und verlangt eine eigene Meerjungfrau.
Was ich
zugegeben nicht erwartet hätte, ist die Detailgetreue auch im Bordell
selbst, nicht was Alltag und Setting betrifft, sondern der genauestens
geschilderte Beischlaf, der ab einer gewissen Stelle ruhig hätte
abgebrochen werden können. Dass Hancock davon angewidert war, ist nur
allzu verständlich. Er lässt alles los, das Bordell und die
Meerjungfrau, für die er einen so gewaltigen Preis verlangt, dass er
nicht geglaubt hätte, dass jemand diesen bezahlt. Er irrt sich.
Noch
einmal hervorzuheben ist die hervorragende Recherche der Autorin, die so
allumfassend ist, dass sich dieses wirklich lesenswerte Werk ergibt. Im
letzten Drittel dann wird es leider etwas undurchsichtig und konfus und
ich muss gestehen, dass ich das eigentliche Ende nicht verstanden habe.
Hier hätte ich mir erhofft, eine Art Pointe zu finden, wenigstens ein
Seufzen beim Zuklappen des Buchdeckels oder wenigstens eine neue Idee.
Leider hat sich Gowar hier ein bisschen in ihrem eigenen Anliegen
verloren, das Leben der Frauen (und die zahlreichen Details, die noch
nicht aufgegriffen waren) über die eigentliche Geschichte gestellt und
damit auch über alle anderen Figuren. Ein wirkliches Happy End kann sich
so natürlich leider auch nicht ergeben. Die Autorin entlässt ihre Leser
rätselbehaftet und leider auch ein bisschen unzufrieden.
Insgesamt
hat sich eine bunte Mischung ergeben, die vielleicht auch in mehrere
Romane gepasst hätte, die aber für ein sehr illustres Bild sorgen - und
für den ein oder anderen neuen Aspekt bei der Betrachtung des Lebens im
London des 18. Jahrhunderts.
Imogen
Hermes Gowar lebt in London. Sie hat Archäologie, Anthropologie und
Kunstgeschichte studiert und anschließend in verschiedenen Museen
gearbeitet. Die Ausstellungsstücke haben sie zu ihren ersten fiktionalen
Texten inspiriert. Ihr Debütroman Die letzte Reise der Meerjungfrau ist
aus ihrer Dissertation im Fach Kreatives Schreiben hervorgegangen und
wurde mit dem Curtis-Brown-Preis ausgezeichnet.
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Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!
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