Dienstag, 12. Oktober 2021

DAFUQ - Kira Jarmysch

 


Titel: DAFUQ

Autorin: Kira Jarmysch

Originaltitel: aus dem Russischen übersetzt

Verlag: ‎ Rowohlt

ISBN: 978-3737101400

Euro: 22,00

Veröffentlichungsdatum: September 2021

Seiten: 416

Serie: nein

Come in: vorablesen.de

 

 

 

Inhalt
Die Studentin Anja Romanova wird zu zehn Tagen Arrest verurteilt, da sie an einer nicht genehmigten Demonstration teilgenommen hat. Sie findet sich mit fünf anderen Frauen in Gefängniszelle #3 wieder, die wegen unterschiedlicher Vergehen inhaftiert wurden. Die kleine Auszeit aus ihrem Alltag lässt Anja über ihr Leben nachdenken: Das komplizierte Verhältnis zum Vater, die missglückte Dreiecksbeziehung, den erschwerten Start ins Berufsleben … Es sind keine schöne Erkenntnisse, zu denen Anja nach und nach gelangt.

 

Meinung
Zunächst ist die gelungene Aufmachung der deutschen Übersetzung zu nennen. Das bloße Cover macht wenig her, aber Strukturierung desselben und die glatte, glänzende Schrift wirken in natura erheblich hochwertiger. Dazu sind die Ränder des vorderen und hinteren Covers an den Kanten nicht bearbeitet worden, die feste Pappe scheint durch, was dem Buch einen rustikalen Eindruck verschafft. Einzig das Motiv selbst, eine rauchende Frau, gefällt mir persönlich nicht, was allerdings in erster Linie am Glimmstängel liegt.

Die Autorin begrüßt sicher eine intensive, kritische Auseinandersetzung mit ihrem Buch, die auch nötig ist, da Jarmysch deutlich mehr aus ihrer Geschichte hätte herausholen können und vermutlich auch sollen. Persönlich bin ich mir nicht sicher, ob das Buch überhaupt das Interesse der Leser und Presse derart erreicht hätte, wäre Jarmysch nicht Sprecherin eines in Deutschland oft in den Medien vertretenen russischen Juristen und politischen Bloggers. Die Story selbst kommt recht einfach und leider mit zahlreichen Klischees daher, so dass die Autorin vermutlich nicht anders konnte, als am Schluss zu einer kruden mythologisch angehauchten Symbolik zu finden und daraus ein arg konstruiertes Ende zu basteln. Insgesamt ist der Roman rasch und angenehm zu lesen, wenn er auch nicht immer ganz fehlerfrei daherkommt, was allerdings nicht der Autorin angelastet werden kann.

Am augenfälligsten ist nach dem Lesen, dass der Roman auch hätte in jedem anderen westlich geprägten Land spielen können; hätte es nicht Borschtsch oder Buchweizengrütze zu den Mahlzeiten gegeben, wäre kaum zu erkennen gewesen, in welchem Staat die Woke-geprägte Grundgeschichte spielt. Lediglich zwei Dialoge, die die Protagonistin mit Wachleuten führt, lassen es erahnen und sei es auch nur, da Putin oder unerlaubte Demonstrationen erwähnt werden. Denn leider kommt obendrauf, dass zwar erwähnt wird, dass die Demo sich gegen „Korruption in der Politik“ drehte, aber auch das könnte in jedem anderen Land stattfinden. Die Autorin geht leider nicht intensiver auf eine wie auch immer geprägte Politik oder eigene Standpunkte zu eben dieser ein.

Anja ist achtundzwanzig und nähert sich dem Ende ihres Studiums. Sie war das erste Mal auf einer Demo und wurde verhaftet. Die zehn Tage Arrest muss sie sofort antreten und ihr wird klar, was das eigentlich heißt. So heroisch wie es anfangs klang, ist es nicht. Die Haft selbst schildert Anja insgesamt gut, es ist alles nachvollziehbar. Es wird Ernährung und Gesundheit sichergestellt, alles scheint korrekt abzulaufen, man erkundigt sich nach dem Befinden der Gefangenen, leitet sogar Zigaretten zwischen den Zellen weiter. Nur ist dennoch die Zelle überfüllt, es dudelt die ganze Zeit ein Radio und duschen darf man nur einmal die Woche – Arrest eben, kein Hotel. Wenigstens schmeckt das Essen.

Die Mitinsassinnen erfüllen jede eine Rolle und sollen laut Klappentext einen Aspekt der aktuellen russischen Gesellschaft in Bezug auf Frauen darstellen. Aber auch hier ist der Bezug zu anderen Gesellschaften erkennbar. Katja ist lesbisch und macht kein Geheimnis daraus, sie raucht und gibt den Ton an. Dianas Vater stammt aus Kuba und ihr Zweck für die Geschichte ist nach der Frage eines männlichen Inhaftierten durchs Fenster, woher sie und ihre dunklere Hautfarbe stammen, erledigt, als sie antwortet: Ich komme aus Moskau! Irka (Bezug zu Kira?) ist körperlich und geistig am Ende, sie ist von verschiedenen Mitteln abhängig (bekommt in Haft ein Medikament als Ersatz), dazu noch vom Alkohol; um sich eines davon zu beschaffen, schläft sie mit diversen Männern, ohne es auch nur recht zu begreifen. Natascha ist eine meist schlecht gelaunte Kriminelle mit Sprachfehler. Und Maja hat ihren Körper tunen lassen: Brust, Bauch, Po. So gelingt es ihr, sich ein Luxusleben durch reiche Männer zu finanzieren.

Sie alle erzählen ein wenig über sich, nachdem sie Anja willkommen geheißen haben. Doppelstockbetten, einfache Bettwäsche.

Der Roman ist in Kapitel aufgeteilt, die die jeweiligen Tage als Überschrift tragen. Schnell wird deutlich, dass Anja am Ende ihrer geistigen Kräfte steht, was die Inhaftierung begünstigt, wenn auch nicht hervorgerufen hat. Es dauert, ehe sie und der Leser sich an die neue Situation gewöhnen. Schauplatz ist fast durchgängig die kleine Zelle, der Speisesaal oder ein kurzer Abstecher ins Gericht.

Eine Veränderung wird es zudem für keine der Gefangenen geben, sie verlassen Anja und es ist nicht zu erkennen, ob sie sich wiedersehen werden, vermutlich nicht. Es liest sich alles flüssig weg, ist aber nicht sonderlich spektakulär. Anfangs geschieht fast nichts, wer Action braucht, sollte nicht zugreifen.

Schließlich wird eine Zellengenossin nach der anderen entlassen und Anja ist allein. Sie überdenkt ihr Leben. Überraschend ist ihr Vater zu Besuch gekommen, zu dem sie nie ein gutes Verhältnis hatte, nachdem er die Mutter verlassen hat, als Anja neun Jahre alt war. Sie reflektiert ihr Verhältnis, das natürlich zu ihren Gunsten verläuft, der Vater kommt nicht gut weg. Einige Episoden aus der Jugend werden zudem geschildert. Anja findet nur schwer zu sich selbst und auch zu ihrer Sexualität. Im Studium beginnt sie ein anfänglich anders geplantes Dreiecksverhältnis mit Sonja und Sascha, bemerkt schnell, dass die beiden sich mehr zugetan sind. Ihr Praktikum im Außenministerium  verläuft schwierig, auch wenn schlecht zu verstehen ist, weshalb. Sie gerät in eine Falle: junge, gutaussehende Frau und ein hochstehender Mann, der sich an sie heranmacht. Statt den Mund aufzumachen, lässt sie ihn gewähren, lässt sich einladen, trinkt und schiebt es später auf den Alkohol und den Mann, der sie ausgenutzt hätte.

An dieser Stelle begann ich mich zu fragen, ob die Frauen in der Zelle vielleicht alle einen Teil von Anja verkörpern sollten, den sie Stück für Stück abstreift, als die jeweilige Frau entlassen wird. Die Anja, die in den Rückblicken geschildert wird, führt ein recht selbstzerstörerisches Leben, ohne es offenbar zu ahnen. Überhaupt lässt diese halbe soziale Studie (alle Frauen sind irgendwie „kaputt“) tief blicken, aber vermutlich nicht derart, wie die Autorin es gern hätte. Ein so gestörter und immer wieder zurückgewiesener Charakter wie Anja hat im Prinzip gar keine andere Wahl, als sich zu radikalisieren, und sei es nur deswegen, um sich endlich Gehör (bei wem auch immer) zu verschaffen.

Am Ende des letzten Drittels greift Jarmysch dann weibliche Mythologie auf, in etwa die Nornen. Was genau sie damit sagen möchte, ist mir leider verborgen geblieben. Warum sie keine slawische Mythologie aufgreift, in der es jede Menge starke Frauengestalten gibt, habe ich leider ebenfalls nicht verstanden. In den slawisch geprägten Gesellschaften lief generell vieles anders, besonders in Bezug auf Frauen(-bild), weshalb mich dieser Versuch, den typischen, inzwischen internationalen Feminismussprech mit den dazugehörenden Begriffen, Anja bezeichnet sich nach all dem von ihrem Leben geschilderten Ereignissen tatsächlich als privilegiert, in diese Gesellschaftsstrukturen hineinzupressen, irritiert hat. Dabei ist Anja nicht nur in ihrem Leben, sondern auch im Arrest von Frauen in gewissen Positionen umgeben. Nichtsdestotrotz schadet es nicht, darauf hinzuweisen, dass die Gesellschaft aus verschiedenen Schichten, Wünschen und Alltäglichkeiten besteht.

So ist „DAFUQ“, übrigens eine Abkürzung für „what the fuck“, ein spürbares Debüt, das noch nicht ganz gelernt hat, den Finger in die Wunde zu legen und diesen dann kräftig zu bewegen. Zu seicht, zu klischeehaft, zu geprägt vom außen ist die Geschichte. Ich würde jederzeit wieder etwas von Jarmysch lesen, ihr aber empfehlen, nicht gar so zwanghaft zu versuchen, irgendwelche aktuellen, internationalen Denkarten hineinzuquetschen. Oder sich zumindest auf nur eine davon zu konzentrieren, dann aber richtig. Dann würde es nicht so gepresst wirken und käme glaubhafter daher.

PS: Es ist wahnsinnig schwer, das Original sowohl Titel als auch Cover im WWW zu finden. Falls Ihr mehr Glück habt, lasst es mich bitte wissen. Danke!

 

Kira Jarmysch, geboren 1989, studierte Journalistik an der Diplomaten-Kaderschmiede MGIMO in Moskau – ohne Aufnahmeprüfung, da sie Siegerin der landesweiten «Intelligenz-Olympiade» war. Ihr hochgelobter Debütroman erschien im Herbst 2020 in einem regimekritischen russischen Verlag. Seit 2014 arbeitet Kira Jarmysch als Pressesprecherin des prominentesten Oppositionspolitikers in Russland, Alexej Nawalny.

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Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!

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