Titel: Skargat: Der Pfad des schwarzen Lichts
Autor: Daniel Illger
Originaltitel, 575 Seiten
ISBN: 978-3608946420
Euro: 17,95
Von Lebenden und Toten
Schon
als Kind war ich von der Vorstellung fasziniert, dass es nur ein dünner
Schleier ist, der die Welt der Lebenden von jener der Toten trennt. Wir
hatten eine schwarze Katze, die manchmal – ganz unvermittelt und aus
unerfindlichen Gründen – begann, in eine Ecke des Wohnzimmers zu
stieren, wo niemand saß, oder sogar die leere Luft anfauchte. Irgendwo
hatte ich gelesen, oder jemand hatte es mir erzählt, dass Katzen die
Toten sehen können. Und wenn sich unsere Katze, sie hieß sinnigerweise
Blacky, so benahm, fragte ich mich, welche ungebetenen Besucher sich da
ins Haus geschlichen haben mochten.
Ich nahm diese Vorstellung sehr
ernst. Sie ließ mir wohlige Schauer den Rücken hinablaufen; zugleich
hatte sie etwas zutiefst Beunruhigendes. Denn aus meinen
Gruselgeschichten und Gespenstercomics wusste ich, dass die Seelen, die
nicht im Grab verblieben, selten mit wohlmeinender Absicht zurückkamen.
Andererseits hielt ich es für möglich, dass die Toten nicht – oder nicht
nur – wegen uns hier waren. Vielleicht hatten sie in ihrer Welt ganz
eigene Aufgaben zu meistern, ganz eigene Kämpfe zu bestehen. Vielleicht
gab es Gründe dafür, dass einer der Ihren dort im Halbdunkel stand, die
ich nicht einmal erahnte.
Später, sehr viel später, wurde mir klar,
dass derartige Vorstellungen nicht allein der kindlichen Phantasie
entstammten. Vielerorts in Europa zählte es bis weit in die Neuzeit
hinein zu den unerschütterlichen Überzeugungen des sogenannten
Volksglaubens, dass die Verstorbenen irgendwie noch zu unserer Welt
gehörten. Sie waren so gut oder so böse wie zu Lebzeiten; sie übten
Berufe aus und verfügten über Geld; sie zechten in Wirtshäusern, die für
Ihresgleichen bestimmt waren; sie versammelten sich in Kirchen, um
Gespenstermessen zu feiern – und wehe den Lebenden, die eine solche
Messe störten.
Je mehr ich über diese Dinge erfuhr, desto
unheimlicher und zugleich inspirierender fand ich sie: etwa den Brauch,
Speisen und Getränke bereitzustellen für die ruhelosen Toten, die nachts
in den Dörfern umgingen und mit dieser Gabe besänftigt werden sollten
... Oder die zahllosen Geschichten, die sich um die Wilde Jagd rankten,
jenen Zug wütender Gespenster, der vornehmlich in den zwölf Rauhnächten
nach Weihnachten übers Land streifte und unvorsichtige Wanderer mit sich
nahm ... Oder das Wissen um die vielfältigen Arten von Wiedergängern,
die über Jahrhunderte hinweg die Albträume der Bauern bevölkerten: der
Nachzehrer, der im Grab an seinem Leichentuch nagte und so Krankheit und
Verderben über seine Verwandtschaft brachte; oder den Aufhocker, der
seinen Opfern an Wegkreuzungen auflauerte, Vorbeikommenden ins Genick
sprang und ihnen dann das Leben aussaugte ...
Irgendwann fiel mir
auf, dass das Genre, welches wir als High Fantasy bezeichnen – so sehr
es von überkommenen Sagen, Legenden und Mythen umgetrieben wird –, wenig
von den Gespensterwelten des Volksglaubens zu wissen scheint.
Sicherlich finden diese ihre Echos, beispielsweise in Rothfuss’
„Chandrian“ oder Martins „Others“, vielleicht auch in dem gelegentlichen
Vampir oder Zombie; aber einen Fantasyroman, der seinen Weltentwurf um
die Begegnungen und Konflikte zwischen dem Reich der Lebenden und der
Toten anlegt und Letzteres als einen Ort zeichnet, der von den
verschiedensten Wesenheiten bewohnt wird, die sich in ihrem
geisterhaften Dasein ganz unterschiedlichen Zielen verschrieben haben –
einen solchen Roman kannte ich nicht.
Nun denke ich, dass das
Gelingen von Fantasy wesentlich davon abhängt, dass uns die Sekundärwelt
nicht einfach gezeigt wird, sondern dass wir, die Leserinnen und Leser,
für die Dauer der Lektüre gleichsam übersiedeln in die Lande, wo die
jeweilige Geschichte spielt. Es geht darum, dass wir die andere Welt
sehen, fühlen, riechen und schmecken. Dass wir begreifen, was es
bedeutet, in dieser Welt geboren zu werden, zu leben und zu sterben; mit
ihren Gesetzen zu ringen, unter ihren Wahrheiten und Lügen zu leiden;
in ihr das Glück zu suchen und das Unglück zu finden, oder, ganz
unerwartet, zu erleben, dass eine Hoffnung sich erfüllt. Dann erlaubt
uns Fantasy nicht einfach, wie ja nach wie vor oft behauptet wird, vor
unserer Welt zu fliehen – sondern verändert in unsere Welt
zurückzukehren: sie mit anderen Augen zu sehen; neue Gedanken und
Gefühle zu haben, wenn wir uns mit den politischen, sozialen und
moralischen Problemen unserer Zeit konfrontieren. Ich bin davon überzeugt, dass Fantasy, wenn sie wirklich gut ist, dies leisten kann.
Die
Frage, welcher Art diese Gedanken und Gefühle sind, lässt sich indessen
nicht trennen von jener nach der Beschaffenheit der entsprechenden
Sekundärwelt. Mittelerde fordert uns auf andere Weise heraus als
Westeros oder Zamonien.
In der Welt von Skargat gibt es einen Gasthof Zum Fröhlichen Toten,
wo sich spitzige Schatten mit vermodernden Liebenden und untoten Babys
treffen und ein dolchzähniger Wirt Eiter anrührt; es gibt den Schwarzen
Jäger, der mit einem Zug grimmiger Toter durch die Nacht galoppiert und
dessen Beute die Seelen Ruchloser sind; es gibt Männer, die foltern und
morden, um sich Eintritt in die Gespensterwelt zu verschaffen. Und es
gibt eine Handvoll mehr oder weniger verlorene Gestalten – Geächtete,
Ausgestoßene und Flüchtlinge –, die sich plötzlich zwischen dem Reich
der Lebenden und jenem der Toten wiederfinden und begreifen lernen, dass
beiden Reichen eine furchtbare Gefahr droht, die auch nur in beiden
bekämpft werden kann.
Katzen spielen übrigens bislang keine größere
Rolle. Falls sich das ändern sollte, werde ich mir noch einmal die Frage
stellen, wen oder was Blacky damals in der leeren Zimmerecke anfauchte.
Oh, dein Layout hat sich ja verändert. Ungewohnt, aber immer noch schön übersichtlich. :) Ansonsten: Schöner Autorenplausch! :)
AntwortenLöschenLiebe Grüße,
Nazurka
Ja, hab auch ein paar Tage gebraucht, um mich daran zu gewöhnen ;-)
LöschenDer Text oben gefällt mir auch sehr gut!
Schöne Idee der Autorenplausch und wirklich !ein interessanter Text
AntwortenLöschenWillkommen im Blog!
LöschenIch mag den Text auch. Inzwischen habe ich sogar schon mit dem Buch selbst angefangen und lese es auch recht gern.