Portalzauber

Donnerstag, 3. März 2022

Madame 60a - Henriette Valet

 


Titel: Madame 60a

Autorin: Henriette Valet

Originaltitel: MADAME 60 BIS

Verlag: Das Kulturelle Gedächtnis

ISBN: 978-3946990628

Euro: 24,00

Veröffentlichungsdatum: Februar 2022

Seiten: 232

Serie: nein

Come in: vom Verlag

 

 

 

Inhalt/Klappentext
Das Hôtel-Dieu, im Schatten der Pariser Kathedrale Notre-Dame, nimmt seit Jahrhunderten mittellose Schwangere auf, die kurz vor der Entbindung stehen und nicht wissen, wohin. Es ist ein Mikrokosmos, der die Gesellschaft unter Extrembedingungen spiegelt - und doch weiß man wenig über die konkreten Bedingungen, das Erleben an diesem vielfach tabuisierten Ort. In den Jahren um 1930 betritt eine junge Frau dieses Heim. In den überfüllten Saal wird, zwischen die Nummern 60 und 61, ein weiteres Bett geschoben: 60a. Henriette Valets Roman Madame 60a begleitet die namenlose, aber nummerierte Protagonistin bis zur Geburt ihres Kindes und zur Entlassung aus dem Hôtel-Dieu. Wir sehen die Routinen und Schmerzen, die Gehässigkeit und Verzweiflung der Frauen, aber auch ihre Freimütigkeit und ihren Zusammenhalt. Die Niedertracht der Situation, in die sie geraten sind, konzentriert die Niedertracht einer ganzen Gesellschaft. Valets Beobachtungen sind unbestechlich, ungeschönt, aber Madame 60a gestattet sich selbst keine Verbitterung: Gegen die Unterdrückung der Frauen ebenso wie gegen deren Resignation erhebt sie eine wütende und ergreifende Anklage.

 


Meinung

Während es nicht besonders schwierig ist, etwas zu Valets Ehemann Henri Lefebvre herauszufinden, den sie 1936 heiratete und von dem sie 1980 geschieden wurde, kommt es einer Herausforderung gleich, ein wenig Hintergrund zur Autorin zu recherchieren. Sie stammt aus einfachen Verhältnissen aus dem Umfeld von Schneidern, verließ ihren Heimatort, um in Paris als Telefonistin zu arbeiten. Dort lernte sie über eine Freundin einige Intellektuelle kennen, von denen einer Lefebvre war. In diesem Umfeld las sie viel und schrieb bald selbst einen Roman, der 1934 veröffentlicht wurde. Es ist anzunehmen, dass er nicht rein fiktiv daherkommt, sondern dass Valet selbst ein Kind im Hôtel-Dieu gleich neben der Pariser Kathedrale Notre-Dame zur Welt gebracht hat. Ein Ort, von dem zumindest ich vorher nie etwas gehört habe. Bereits 651 gegründet wurde es 1865 abgerissen und andernorts neu aufgebaut. Neben einem Hospital für Arme gab es eine Station für Schwangere, ob ledig oder nicht, die in jedem Fall aufgenommen und bis zur Geburt verpflegt werden mussten. Es scheint, als sei das Hôtel-Dieu immer an den Kapazitätsgrenzen gewesen. Auch Madame 60a, die zunächst mit dem Kommenden hadert, bekommt das zu spüren. Zwar erhält sie ein Bett, doch es wird zwischen zwei weitere geschoben – 60 und 61. Die eine Bettnachbarin nimmt sie sogleich unter ihre Fittiche und erzählt vom Leben auf der Station, von den zahlreichen Frauen, die dort auf ihre Entbindung warten. Valet schafft es meisterlich, jeder Frau eine eigene Stimme, eine individuelle Art zu reden und zu denken zu geben, sie damit unglaublich lebendig zu machen. Und das obwohl es keine wirkliche Handlung gibt. Es ist ein zeitlich begrenzter Zeitraum mit wechselnden Figuren, eine Mischung aus Tatsachenbericht und Erzählung. Kaum zu glauben, dass es sich um ein Debüt gehandelt haben soll.

Die Autorin schafft es meisterlich, das Leben der einfachen Leute im Leben der Frauen und Mädchen zu spiegeln. Eine ist Dienstmädchen, aber mit ihrem Maurer trotz unehelich doch stark in Liebe verbunden. Ein anderes Dienstmädchen hat weniger Glück, kein Mann und die Herrin gibt vor, dass sie wieder zur Arbeit kommen könne, aber nur ohne Kind (wegen dem Fehltritt). Eine Ehefrau, die bereits zahlreiche Kinder hat, aber kein Geld, um Schwangerschaft und Geburt durchzustehen. Ein junges Mädchen, das kaum wusste, was geschieht und plötzlich schwanger war. Andere, die von den Eltern verjagt wurden oder auf der Straße leben … Es ist eine bunte Mischung zusammengekommen. Die Frauen teilen sich in kleinere Grüppchen, sitzen aber doch alle im gleichen Boot, ohne dass es ihnen so recht bewusst wird. Es ist nicht „der Mann“ oder die „Männerwelt“, die in meinen subjektiven Augen vordergründig angeklagt wird. Es sind Umstände, die die Väter/Erzeuger ebenfalls nicht steuern können, einige finden sich damit ab und bleiben dennoch menschlich, andere nutzen, was sich ihnen bietet. Es ist der Kapitalismus, der für das Unglück der Frauen sorgt. Jene, die alles zu haben scheinen – Frauen mit Geld bringen ihre Kinder zu Hause und unter hygienischen Umständen zur Welt – und jene, die nichts bis gar nichts besitzen und trotz harter Arbeit auch nie etwas Nennenswertes besitzen werden. Und Erstere, die sich, um sich bei Gott „freizukaufen“, eben Almosen stiften.

Es ist schwer, sich von den Zeilen von Valets Geschichte zu lösen, es fliegt Seite um Seite vorbei. Eine Erzählung, die auf den ersten Blick schlicht wirkt, sich aber stetig erweitert und einen Blick auf eine Gesellschaft freigibt, die aus rein weiblicher Sicht erzählt und ohne Zeigefinger auch angeklagt wird. Dennoch aber auch die Stärke der Frauen betont, wenn leider nicht alle ohne neue Not aus der Situation hervorgehen.

Danke an den Verlag, der dieses wichtige Stück Zeitgeschichte übersetzt und veröffentlicht hat.

 

Henriette Valet (1900-1993) wird in Paris in bescheidenen Verhältnissen geboren. Sie wächst in der Auvergne auf, wo sie beginnt, als Telefonistin zu arbeiten, ehe sie 1924 zurück nach Paris zieht. Dort findet sie Anschluss an linke Intellektuellen- und Künstlerkreise. Für Arbeiter- und Gewerkschaftszeitschriften schreibt sie sowohl journalistisch als auch literarisch. Ihr erster Roman, Madame 60a, erscheint 1934 bei Grasset. 1936 heiratet sie den marxistischen Philosophen und Soziologen Henri Lefebvre, mit dem zusammen sie den Roman Le mauvais temps (Grasset 1937) schreibt. Nach dem Weltkrieg spielt man in Paris ein Theaterstück von ihr, danach verliert sich ihre literarische Spur. Sie stirbt 1993 in Paris.

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Es ändert sich nichts am Kommentieren, nur muss jetzt dieser lange untere Absatz dabeistehen. Ich danke allen, die mir einen Gruß dalassen!

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