Titel: Die Kinder sind Könige
Autorin: Delphine de Vigan
Originaltitel: Les enfants sont rois
Verlag: DuMont
ISBN: 978-3832181888
Euro: 23,00
Veröffentlichungsdatum: März 2022
Seiten: 320
Serie: nein
Come in: vorablesen
Inhalt
Mélanie, die immer davon geträumt hat, in einer
Realityshow berühmt zu werden, dafür aber zu unscheinbar war, ist dennoch am
Ziel angekommen. Mit ihrem Mann Bruno und den beiden Kindern Kimmy (6) und Sammy
(8) betreibt sie den erfolgreichen youtube-Kanal „Happy Récré“. Fünf Millionen
Follower können den täglichen Alltag der Familie ansehen. Zwar scheint ihre
Tochter dem Filmen immer unwilliger nachzukommen, aber sie tut das als Laune
ab. Doch dann kommt Kimmy nicht vom Spielen nach Hause, die Suche nach ihr
bleibt erfolglos. Polizeiermittlerin Clara ist sich sicher, dass sie entführt
wurde. Bringen die Follower der Familie doch nicht nur Liebe und Bewunderung
entgegen, wie Mélanie glaubt?
Meinung
Sie sind kaum mehr wegzudenken, all die Influencer, die sich über ihre Kinder profilieren. Und sie verdienen eine Menge Geld damit. Was das für die Kinder heißt, darüber machen sie sich wenig Gedanken. Nicht nur, dass ein kurzes Video an drei Tagen die Woche echte Arbeit bedeutet, da immer wieder neu und wiederholt gedreht werden muss, dass es ein kompletter Einbruch in die Privatsphäre des Kindes ist, als Erwachsener muss es hart dafür kämpfen, dass all die Peinlichkeiten aus dem Internet verschwinden (was nahezu unmöglich ist!). Als erstes Land hat Frankreich ein neues Gesetz beschlossen, dass diese Kinder besser schützen soll. Minderjährige Schauspieler oder Models hatten bereits ein Schutzgesetz, das nun auf Influencer ausgeweitet worden ist. Das viele Geld, das mit ihrem Leben eingenommen wird, muss auf ein Treuhandkonto fließen, über das das Kind bei Erreichen der Volljährigkeit selbst bestimmen darf. Will ein Unternehmen mit einem solchen Kind arbeiten, muss es eine Genehmigung einholen. Und ihr Recht auf Löschung ist erweitert worden. Dass all dies nötig geworden ist, zeigt, dass hier einiges im Argen liegt.
Delphine de Vigan hat das erkannt und sich dieses heißen Themas angenommen. Sie hat einen eher unaufgeregten Roman geschrieben, der trotzdem – oder gerade deswegen – kaum aus der Hand zu legen ist. Sie hebt erst am Ende den Zeigefinger, begnügt sich anfangs damit, alles nur zu zeigen. Zwar hat sie zwei recht klischeehaft wirkende Figuren gegenübergestellt, das kann aber überlesen werden.
Zunächst wird die überaus durchschnittliche Mélanie in ihrer Jugend gezeigt. Ein bürgerliches Elternhaus, in dem ihre Schwester stets mehr Aufmerksamkeit erhalten hat. Ihr Lichtblick sind die zahlreichen Realityformate, mit denen wir alle einst im TV überschüttet worden sind. Sie träumt davon, selbst durch eine solche bekannt zu werden, doch ihr einziger Versuch scheitert.
Zeitgleich stellt die Autorin Clara vor, die in einem Lehrerelternhaus aufgewachsen ist, in dem man nichts von TV und eben diesen Formaten hielt. Sie und andere demonstrierten sogar dagegen. Clara entscheidet sich gegen einen langen Bildungsweg und geht zur Polizei. Dort gilt sie als pedantisch und übergenau, wird aber auch dafür geschätzt. Sie hat sich gegen Kinder entschieden und lebt quasi nur für ihre Arbeit. Das ist ein bisschen schade, denn der Extremmutter hätte eine weichere Variante als Gegenbild gutgetan.
Dabei ist Mélanie nicht psychisch auffällig, sie liebt ihre Kinder und kann mit Kimmys Verschwinden nur schlecht umgehen. Aber all die Aufmerksamkeit, die ihr aus den sozialen Medien entgegenschlägt und die scheinbar eine innere Leere füllen, das viele Geld, das die Familie verdient und die Konkurrenzsituation mit anderen Kanälen (die sie überflügelt) scheinen in ihrem Belohnungssystem im Gehirn etwas auszulösen. Die Verpflichtungen mit Firmen und die (gedachte) Erwartungshaltung der Follower scheinen zusätzlich ihren Blick auf die Realität zu verstellen. Sie glaubt, dass die Kinder alles gern mitmachen, was nicht der Fall ist.
Clara lebt ein sehr einsames Leben, zu einsam. Vielleicht soll das der Gegensatz sein? Sie hat sich gegen Kinder und damit gegen den Mann entschieden, den sie liebte. Weitere Beziehungen sind nicht infrage gekommen. Es wirkt trist, was der Leser von ihrem Leben erfährt.
Die Autorin schreibt angenehm, wenn auch nicht sehr dicht an ihren Figuren. Oft wirkt das Geschriebene wie eine Nacherzählung, die aber dennoch voller Gefühl und Eindringlichkeit daherkommt. Sie schildert den Alltag der Familie nicht nur in der laufenden Handlung, sondern auch in den Protokollen, die Clara schreibt. Diese schaut sich nämlich alle Videos minutiös an. Auch Verdächtige werden in diesen Protokollen befragt, so dass diese zwischen der laufenden Handlung auflockernd wirken. Was Mélanie nicht sehen will, ist von anderen Figuren längst erkannt worden.
Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, was passiert sein könnte, als Kimmy verschwunden ist. Leider lässt die Autorin einige Andeutungen nicht so feinfühlig einfließen, wie gewünscht, so dass schnell klar ist, was passiert ist. Das macht aber nichts, da es nicht in erster Linie darum geht. Die Zuspitzung der Ereignisse ist auch so gut nachzuvollziehen.
Der zweite Teil des Romans setzt knapp zehn Jahre später an. Was ist aus den ehemaligen Kindern geworden? Dass einstige Kinderstars aus Hollywood, die heute erwachsen geworden sind, oft keine gesunde Entwicklung durchgemacht haben, ist bekannt. Mit ähnlichen Lebenswegen dealt auch die Autorin. Es wirkt manchmal ein wenig zu gewollt, aber insgesamt ist klar herauszulesen, was sie Lesern und Influencereltern versucht zu sagen. Es ist kein Spaß. Es ist Arbeit. Es ist ein Griff in die Privatsphäre des Kindes. Es kann nicht spurlos an ihnen vorbeigehen!
Diese aktuelle Gesellschaftskritik, die sich zudem sehr angenehm lesen lässt, sei jedem anempfohlen.
DELPHINE DE VIGAN, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman ›No & ich‹ (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman ›Nach einer wahren Geschichte‹ (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Zuletzt erschien bei DuMont ihr Roman ›Dankbarkeiten‹ (2019). Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.
Zu dem Thema habe ich erst vor ein paar Tagen Beiträge auf YouTube gesehen. Vorher war mir die Tragweite gar nicht so bewusst, aber der Alltag irgendwelcher Familien interessiert mich normalerweise auch wenig... Schon krass, was die teilweise filmen und veröffentlichen... Dass das an den Kindern nicht spurlos vorbei gehen kann, sollte eigentlich klar sein.
AntwortenLöschenIch schaue das auch nicht, aber es müssen weltweit Unzählige sein. Der Achtjährige, der am meisten verdient ist Ryan in Texas, der jährlich sechsundzwanzig Millionen damit macht bzw. wohl eher seine Eltern.
LöschenDie Autorin schneidet kurz an, dass Eltern das vielleicht nicht bewusst ist, weil eben Eltern das filmen und dann im häuslichen Umfeld. Das ist ja doch etwas anderes als in Hollywood. Oder? Ich glaube, es geht diesen Kindern genauso schlecht. Das erste Buch zum Tema, das ich bewusst wahrgenommen habe. Aber es gibt sicher bald noch viel mehr. Und in wenigen Jahren werden wir ja wissen, wie es in der Realität ausgegangen ist ...